Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
wurde ernst. »Bitte setz dich! Ich koch uns Tee. Was hast du denn beobachtet?«
»Ich hätte lieber einen Whisky«, erwiderte Marysa und setzte sich an den Tisch.
Als er ihr das Glas reichte, fuhr sie fort. »Ich hab ihn nicht gut zu sehen bekommen. Jedes Mal, wenn ich mich nach ihm umgeschaut habe, war er verschwunden. Das klingt dumm, ich weiß, doch ich schwöre, dass da jemand war.«
Jeryd setzte sich neben sie und legte seine Hand auf ihr kaltes Knie. »Du sagst nichts Dummes, denn wir leben in seltsamen Zeiten. Woran ist dir aufgefallen, dass dir jemand folgt?«
»An den Schritten – sie klangen immer gleich. Ich bin nicht dabei, verrückt zu werden, wirklich nicht.«
»Aber nein«, beruhigte Jeryd sie, vermittelte ihr mit einem Blick, dass sie sich gewiss in nichts hineinsteigerte, und nahm sie in die Arme.
Sie nippte hastig an ihrem Whisky. »Wer mag das gewesen sein?«
Er fragte sich kurz, ob es mit seiner Arbeit zu tun hatte. Schüchterte jemand sie ein, um an ihn heranzukommen? Er küsste Marysa beruhigend die Hand, und sie schmiegte sich an ihn und ließ den Kopf an seiner Schulter ruhen. Diese Vertrautheit gab ihm das Gefühl, sie seien wieder ein Paar und er könnte sich um sie kümmern. Das war ungemein beruhigend und berührte ihn tief.
Er hatte nicht vor, sie so schnell wieder gehen zu lassen.
KAPITEL 19
In zartes Laternenlicht getaucht, legte Tuya die Hände auf das Sims und sah ins Dunkel hinaus. Das Fenster war ein wenig geöffnet, und da sie nur einen weißen Morgenmantel trug, bescherte der Nachtwind ihr eine Gänsehaut. Das Licht des Mondes Astrid war nur mehr schwach gedämpft. Pterodetten schwangen sich von den nahen Klippen in die Luft, und einige wenige Fußgänger schritten tief vermummt durch die eisigen Straßen. Das war keine Zeit, um draußen zu sein. Warum konnte sie sich mit Villjamur nur nicht anfreunden? Warum dachte sie stets, sie gehöre nicht in diese Stadt?
Sogar die Flüchtlinge glaubte sie zu hören, die bei dieser Kälte vor den Stadttoren zelteten. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, doch diese Vorstellung betrübte sie unablässig. Es konnte doch nicht erforderlich sein, sie auszusperren, oder?
Sie dachte an das, was Ratsherr Ghuda ihr damals in der Liebesnacht enthült hatte und wovon außer den in die Sache verwickelten Ratsmitgliedern vielleicht allein sie wusste. Ganz sicher schuldete sie es der Stadt und sich selbst, die Angelegenheit bekannt zu machen.
Sie musste Villjamur etwas zurückgeben.
Dann wandte sie sich wieder ihrem Gemälde zu, besann sich darauf, wer als Nächster dran war …
… widmete sich der einzigen Fluchtmöglichkeit aus ihrer dunklen Welt, hob den Pinsel und begann zu schaffen .
Breite, weit ausgreifende Pinselstriche. Diagonalen, Senkrechten, Kurven. Ein Körper nahm Gestalt an.
Als sie fertig war, trat sie mit fleckigem Morgenmantel ein wenig zurück. Das war sicher eines ihrer unheimlichsten Bilder. Bisher gab es nichts Vergleichbares, also auch keine Bezüge oder wohlüberlegten Anspielungen.
Vor dem Spiegel bemerkte sie, dass ihre Frisur ganz in Unordnung geraten war. Sie würde sich herrichten müssen.
Ein plötzlicher Windstoß blies die Laterne aus und tauchte sie ins Dunkel. Schon begannen die Farbpartikel zu schimmern, und ein schwaches Licht pulsierte ihr wie ein regelmäßiger Herzschlag von der Leinwand entgegen.
Sie legte sich aufs Bett, wobei sich der Morgenmantel über den angezogenen Knien teilte. Der Wind blähte die Vorhänge am Fenster. Das Schimmern wurde immer heller, und sie sah an sich herab.
Ratsherr Boll würde in dieser Nacht sterben.
Ratsherr Boll trat aus dem Abort des Ratssaals, wo er seinen Abscheu vor öffentlichen Toiletten einmal mehr bestätigt gefunden hatte. Es war ihm nie richtig erschienen, sich dort zu unterhalten, vor allem nicht mit Ratsherr Eduin, der womöglich eben erst von jemandes Hintern abgelassen hatte. Warum nur wollte manch einer in so privaten Momenten schwatzen? Leider konnte man sich diesem Ansinnen schlecht entziehen.
Boll trottete über den Flur zu seinem Zimmer im Palast. Er musste sich auf eine frühmorgendliche Besprechung mit Kanzler Urtica vorbereiten, der einer Nachricht zufolge, die erst vor Kurzem eingegangen war, eine hervorragende Methode entwickelt hatte, alle unerwünschten Flüchtlinge aus der Stadt zu entfernen. Ein Mitglied der Ovinisten sollte daran beteiligt sein, eines Ordens also, der sich mit Gift bestens auskannte. Auf keinen Fall aber
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