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Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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nicht so sehr um das, was mir am Herzen liegt, sondern darum, dafür zu sorgen, dass eine Stadt weiter funktioniert. Wenn einem die Dinge zu sehr am Herzen liegen, beginnt man, sie persönlich zu nehmen, und wenn man sie persönlich nimmt, scheitert man unvermeidlich. Das alles ist ein Geschäft – so einfach ist das.«
    Jeryd beobachtete die Körpersprache dieses vollendeten Politikers. Urtica hatte die Beine während des Gesprächs immer wieder mal so, mal anders unterm Tisch gekreuzt. Auch sah er seinem Besucher kaum in die Augen, und es bereitete ihm offenkundig Unbehagen, über Ratsangelegenheiten befragt zu werden.
    »Herr Kanzler, wisst Ihr, ob ein Ratsmitglied in der Freizeit malt?«
    Urtica blickte auf und hob eine Braue. »Ich habe keinen Schimmer. Warum fragt Ihr?«
    »Weil ich neben beiden Leichen winzige Spuren frischer Farbe gefunden habe.«
    Urtica schüttelte nur den Kopf. »Ich habe Euch alles erzählt, was ich weiß.«
    Jeryd stand auf. »Und ich glaube, ich habe hier getan, was ich konnte.«
    »Würdet Ihr beim Gehen noch einen Holzscheit auf die Glut legen?«, bat der Kanzler. »Es wird hier immer sehr kalt.«
    Jeryd hielt an der Tür inne. »Das scheint mir auch so.«
    Auf dem Weg durch den Flur schlug er missmutig mit der Faust an die Wand. Zwei Morde, die nur durch eine seltsame Ähnlichkeit verbunden waren: durch Farbe. Warum hatte es neben beiden Leichen einen blauen Farbklecks gegeben? Hatten die Opfer versucht, sich mit dem Pinsel gegen ihren Mörder zur Wehr zu setzen?
    Der Kanzler war bisher keine Hilfe gewesen. Und Doktor Tarr auch nicht.
    Plötzlich fiel ihm ein, dass die Verdächtige Tuya in der Freizeit malte. Das war eine offensichtliche, vielleicht zu offensichtliche Verbindung, aber das einzige Indiz, dem er folgen konnte. Doch warum sollte eine geistesgestörte Hure Spitzenpolitiker töten, noch dazu auf so grausame Art? Das schien ihm einfach keinen Sinn zu ergeben. Vielleicht hatte Tuya ein paar Vorschläge, die seine Gedanken beflügeln würden. Also beschloss er, sie sehr bald zu besuchen.
    Aber nicht heute Abend. Heute Abend würde er zu Marysa nach Hause gehen.
    Jeder hatte Anspruch auf Privatleben. Selbst ein Ermittler.

KAPITEL 21
    Kanzler Urtica stieg die bröckelnde Treppenanlage hinunter und warf hin und wieder kurz einen Blick zurück – nur um sicherzugehen.
    Er hatte eine Laterne dabei und schlang sich den Umhang fester um den Leib. Windstöße kamen hinabgefegt und ließen seinen Schatten immer seltsamere Umrisse annehmen. Urtica stieg in ein beinahe vergessenes Viertel Villjamurs hinab, das tief unter der Erde lag. Jahrhundertealte Botschaften waren in die Wände geritzt; Namen geliebter Menschen und verabscheuter Feinde. Fledermäuse, Nagetiere und Eidechsen machten sich die dunklen Ecken streitig, als wären es sonnige Fleckchen an der Erdoberfläche. Der Gestank ihres Kots war durchdringend, doch das hielt Urtica nicht ab. Er hatte im Leben schon mit sehr viel mehr Unrat zu tun gehabt.
    Eine halbe Stunde lang stieg er immer tiefer und kannte den Weg genau.
    Schließlich hörte er Gesang. Also war er so gut wie da. Eine Vorstufe des im Kaiserreich üblichen Jamur drang zu ihm, eine alte Form dieser Sprache, in der die Ovinisten noch immer sangen. Sie waren beim Gebet, flehten aber nicht zu Bohr, Astrid oder einer anderen anerkannten Gottheit. Doch das würde sich ändern – oh ja! – , wenn seine Zeit käme.
    Eine ramponierte Holztür verhieß das Ende seines Wegs. Er klopfte siebenmal, die Luke glitt auf, und neugierige Augen musterten ihn. Ein Flackern des Erkennens. Die Tür wurde entriegelt und geöffnet, und Urtica trat ein.
    Wandspiegel warfen hundert Kerzenflammen zurück und schufen eine merkwürdige Helligkeit. Es roch nach Weihrauch, der in Wolken am anderen Ende des Saales trieb. Dutzende Männer und Frauen in schwarzen Kapuzenroben saßen auf Bänken und blickten auf die jenseitige Mauer, an der kunstvolle Wandteppiche hingen. Auf dem Sockel darunter lagen auf einer Metallplatte Schweineherzen, die aus den Schlachthöfen der Stadt beiseitegeschafft worden waren. Das Singen hielt an, während Urtica zur Stirnseite des Saals ging. Die Kapuzenköpfe verfolgten jeden seiner Schritte und drehten sich entsprechend mit.
    Als er ganz vorn angekommen war, trat ein blondes Mädchen aus einer Bank und führte ein Schwein an der Leine. Sie war in weiße Seide gekleidet, die alle Konturen ihres schlanken Leibs klar erkennen ließ. Das Schwein schnüffelte

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