Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
gab Tarr zurück. »Ich schätze, der Mörder war zwei Stunden lang beschäftigt.«
»Dann war er wenigstens mit Leib und Seele dabei«, murmelte der Ermittler und besah sich, was auf der Platte lag. »Und doch hat niemand etwas davon bemerkt?«
»Hier war erbarmungslose Brutalität am Werk.«
»Ihr hattet recht – hier gibt es für mich tatsächlich nichts zu untersuchen. Ich werde den Rat sofort warnen. Wenn sich ein solches Verbrechen so heimlich begehen ließ, kann es jedes Mitglied als Nächsten treffen. Ich finde selbst hinaus.« Mit diesen Worten wandte Jeryd sich ab.
Als er wieder auf die Straße trat, sog er die kalte Abendluft tief ein, strich sich ungläubig übers Kinn und wünschte sich einen Augenblick lang, diesen Mörder nicht zu fassen. Wollte er demjenigen wirklich begegnen, der ein lebendes Wesen zu Brei schlagen konnte? Und wie würde diese Begegnung aussehen? Verzeihung, Sir, aber ich denke, Ihr … Und dann Schluss mit Jeryd.
Wohin war es mit Villjamur gekommen?
Er setzte seine Kapuze auf, schob die Hände tief in die Taschen und ging dorthin, wo er sein Pferd angebunden hatte.
»Kanzler Urtica«, beharrte Jeryd, »ich bin mir nicht sicher, ob Ihr versteht. Ihr solltet unbedingt für größte Sicherheit sorgen. Verdoppelt, verdreifacht Eure Wachen! Ich fürchte, jemand will ein Ratsmitglied nach dem anderen ausschalten.«
Urtica musterte ihn beunruhigt.
»Die Sache ist ernst«, fuhr Jeryd fort und spürte, dass sein Gegenüber ihm endlich zuhörte. Er saß vor dem großen Schreibtisch eines angenehmen, vertäfelten Zimmers. Das Kaminfeuer war beinahe zu Asche verglommen. Der Rumel und sein menschlicher Gesprächspartner hatten schon eine halbe Stunde miteinander geredet.
»Wie ich sehe, seid Ihr kein großer Sammler.« Jeryd ließ den Blick durchs Zimmer wandern.
»Um klarer zu denken.« Urtica lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Tee. »Und effizienter zu arbeiten. Es gibt weniger, was mich ablenkt.«
»Vielleicht sollte ich das auch probieren und den ganzen Mist aus meinem Zimmer werfen«, überlegte Jeryd. »Na ja, wie ich Euch vorhin schon gefragt habe: Was mag die zwei Ratsherrn verbunden haben? Arbeiteten sie an gemeinsamen Vorhaben? Das hilft mir vielleicht, ein Tatmotiv zu finden.«
»Und wie ich Euch ständig sage, Herr Ermittler«, gab Urtica zurück, »kommt mir nicht das Geringste in den Sinn.«
Er klang entmutigend unnachgiebig, wirkte überheblich und schien sich für unbesiegbar zu halten. Womöglich verbarg er dahinter etwas Dunkleres? Jeryd wollte ihn herausfordern. Du weißt etwas und verschweigst es. »Bedenkt, dass auch Euer Leben in Gefahr sein könnte.«
»Wir werden dafür sorgen, dass alle Flure von heute Abend an streng bewacht werden.«
»Darf ich fragen, welche Probleme dem Rat gegenwärtig am wichtigsten erscheinen?«
»Ist es wirklich nötig, dass Ihr solche Dinge wisst?« Urtica blickte ins Feuer.
»Möglich.« Jeryd zuckte die Achseln. »Vielleicht ergibt sich daraus ein Hinweis auf den Grund der Morde. Schließlich kann es jedes Mitglied des Rats als Nächsten treffen.«
Urtica nickte bloß, als hätte er sich mit der Gefahr schon abgefunden. Aber die Leute reagieren in solchen Lagen eben unterschiedlich: Manche sorgen sich kaum weiter, und andere bekommen solche Panik, dass sie ihr Haus nicht mehr verlassen.
»Unsere gegenwärtige Hauptsorge ist natürlich die Winterstarre«, sagte Urtica. »Sie wirft eine Reihe überaus wichtiger Probleme auf, deren größtes die Flüchtlingskrise ist. Wie Ihr wisst, kampieren schon geschätzte zehntausend Menschen vor den Toren der Stadt.«
»Weiter.«
»Wir arbeiten an mehreren Lösungen« – Jeryd merkte, dass Urticas Miene sich etwas veränderte –, »aber letztlich hängt alles von der neuen Kaiserin ab. Sie entscheidet, was getan wird.«
»Wie meistern andere Städte im Kaiserreich die Lage?«, fragte Jeryd. »Wie kommen Vilhokr, Villiren, E’toawor oder Vilhokteu mit der aufziehenden Eiszeit zurecht?«
»So gut man es eben erwarten kann. Die Menschen sind vom Land in die Städte geströmt. Es werden große Vorräte an Getreide und Brennstoffen angelegt, als Eisbrecher dienende Langschiffe gebaut und viele Güter rationiert. Auch die anderen Städte sehen die Winterstarre als Herausforderung. Diese Eiszeit wird viele Todesopfer fordern, und alle arbeiten hart daran, dass die breite Bevölkerung überlebt.«
»Und das liegt Euch tatsächlich am Herzen?«, fragte Jeryd kühn.
»Es geht
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