Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
hinter ihr herum. Kaum war Urtica vor die Versammlung getreten, zogen seine Zuhörer alle gleichzeitig den Degen und fuchtelten mit den schmalen Klingen herum, bis es still wurde. Urtica bedeutete dem Mädchen, sich hinter ihn zu stellen, und hob dann beide Hände über den Kopf. Die Waffen wurden gesenkt, und als alle sich wieder gesetzt hatten, begann Urtica zu reden.
»Neophyten, Minores, Maiores«, hob er an.
»Magus Urtica … «, antwortete die Versammlung, und ihr Chor hallte von den alten Wänden wider.
»Brüder und Schwestern, ich habe schlimme Nachrichten. Letzte Nacht wurde unser geschätzter Maior Bull im Schlaf grausam ermordet. Er ist schon das zweite Mitglied unseres heiligen Ordens, das in jüngster Zeit getötet wurde.«
Überall erhob sich Gemurmel. Unter den Kapuzen waren vertraute Gesichter zu sehen, und die Augen glitzerten wie Tierpupillen im Feuerschein. Unter den Anwesenden waren mehrere Mitglieder des Rats, doch sie hielten sich ein wenig abseits und waren allesamt um ihre Sicherheit besorgt.
Urtica gebot den Versammelten mit erhobener Hand zu schweigen. »Jamur Rika trifft demnächst in Villjamur ein, und ich spüre, dass wir von dieser Übergangszeit profitieren können. Ich habe vor, mich zum Kaiser von Jamur zu erheben, und wenn das gelungen ist, werde ich euch allen mehr Macht und größeren Einfluss verschaffen.«
»Wie wollt Ihr Jamur Rika beseitigen?«, fragte jemand aus der ersten Reihe.
»Alles wird sich zu seiner Zeit zeigen. Wenden wir uns nun aber unseren heiligen Ritualen zu!«
Beifall brandete auf. Dann wurde in der alten Sprache feierlich gesungen. Das kleine Schwein quiekte vor Angst, und das Mädchen hatte alle Mühe, es unter Kontrolle zu halten. Urtica bedeutete dem Mädchen mit einer Handbewegung, sich vor den Opfersockel zu stellen. Er tauchte bedrohlich neben dem angebundenen Tier auf, klemmte es sich unter den Arm, zog ein Messer aus dem Ärmel, hielt die Klinge in die Höhe und lächelte unbändig; Rauch und Bewunderung schlugen ihm entgegen und berauschten ihn.
Rasch stürzte er sich auf das junge Mädchen und schnitt ihm die Kehle durch.
Es sackte zu Boden, und sein weißes Seidengewand rötete sich wie erblühende Rosen. Das Schwein stieß eifrig die Nase in das Blut.
»Ich verspreche, dass das heilige Schwein – unser wiedergeborener Gott – unter meiner Herrschaft gut genährt werden wird!«, donnerte Urtica. Wieder wurden die Degen gereckt, und der Jubel und das Singen schwollen unheimlich an. Urtica stand mit erhobenen Armen da und keuchte vor Begeisterung. Mit schweißglänzender Stirn winkte er einige Männer aus der vordersten Reihe heran. Der Erste war Gehilfe Tryst, der sich die Kapuze nur ein Stück weit übergestreift hatte. Die Laternen warfen feine Schatten auf sein Gesicht. Der gut aussehende junge Ermittler streckte die Hände aus, als der Kanzler ihm mit großer Sympathie ein Schweineherz anbot.
»Ich muss Euch nachher sprechen«, flüsterte Urtica.
»Selbstverständlich, Magus.« Tryst zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück, denn der nächste Mann stand schon bereit, um seine tropfende Belohnung zu empfangen.
Nach der Feier stieg Urtica mit Tryst wieder in die eigentliche Stadt hinauf.
Als sie schließlich über eine Brücke kamen, blieb der Kanzler stehen, lehnte sich an die massive Steinbrüstung und betrachtete Villjamur aus großer Höhe. Vom Meer war Nebel herangezogen und trieb durch die Straßen. Mitunter schritten Menschen wie Gespenster mit vorgehaltener Laterne durch den Dunst. Es stank nach Gemüse, das kistenweise hinter Bistros und Tavernen verrottete und gelegentlich von Mäuse jagenden Katzen durchstöbert wurde. Eine Kneipentür ging auf, Licht fiel auf die Straße, und einige Männer strömten in den kalten Abend hinaus. Sie johlten ein Lied über einen früheren Kaiser, der auf ganz Jokull ein Blutbad angerichtet hatte.
Urtica sah zu einigen schmalen Fenstern der steil aufragenden Türme auf, in deren schwachen Lichtflecken sich Silhouetten bewegten. Kaum nickte er bestätigend, zündete Tryst einen vorbereiteten Aronkraut-Glimmstängel an. Urtica hatte nichts gegen ein paar schlechte Angewohnheiten dann und wann.
»Ich liebe diese Brücken, Tryst«, bekannte er. »Sie bieten einen herrlichen Ausblick, und man sieht fast alles, was sich tut. Und doch vergessen die Menschen unter uns trotz all der Jahrhunderte immer wieder, dass andere ihre Bewegungen jederzeit beobachten können.«
»Allerdings,
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