Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Beteiligten ihre Zeit, und das Durcheinander ist gewaltig. Und für dich und mich bedeutet das noch mehr Arbeit und Papierkram.« Er schürzte die Lippen. »Wie viele Leute wissen davon?«
»Dem Diener zufolge, der ihn gefunden hat: nicht viele. Er hat sich an einen Ratsherrn in der Nachbarschaft gewandt, und der hat Doktor Tarrs Helfern befohlen, den Toten sofort mitzunehmen; danach hat er uns Bescheid gegeben.«
»Darüber wenigstens kann man froh sein«, sagte Jeryd. »Wir haben es also mit einem Mörder zu tun, der Gefallen daran findet, Ratsmitglieder abzumetzeln?«
»Sieht ganz danach aus«, bestätigte Tryst.
»Schauen wir also wieder bei Tarr vorbei. Und danach sollte ich mich wohl erneut mit Kanzler Urtica unterhalten.«
Der Saal des Lebens war ein deprimierender Ort. Zwar lag er in der Nähe des achteckigen Astronomenturms, war aber viel niedriger. Auch war er nur über Wendeltreppen zu erreichen, die tief hinab in die Stadt führten. Zudem musste man sich durch ein Labyrinth dunkler Gänge kämpfen, und Gerüchte wollten wissen, schon mancher Besucher, der zu weit vom richtigen Kurs abgekommen war, sei nie mehr aufgetaucht. Der Weg dorthin ähnelte dem in eines der unteren Reiche und war eine symbolische Mahnung an die letzte Reise.
Sollte Doktor Tarr noch an den Tod erinnert werden müssen, so war er am richtigen Ort gelandet. Tief unter der Erdoberfläche wurde – so hieß es – in einer Höhle mit hoher Deckenkuppel für jedes in der Stadt geborene Kind eine Kerze angezündet. Sie brannten dort zu Tausenden, standen in Reih und Glied und erstreckten sich in alle Richtungen.
Der Jorsalir-Glaube hielt seine Anhänger zur Meditation an, und dazu war dieser Ort der inneren Einkehr bestens geeignet. Leute kamen und gingen, um still dazusitzen oder zu weinen oder mit leerem Blick auf die Kerzen zu starren.
Wer meditierte, tauchte in die Zeitlosigkeit ein.
Doktor Tarr saß an einer Seitenwand der Höhle auf einer Holzbank. Die flackernden Schatten um ihn herum konnten als Visualisierung des Todes gelten.
Der Arzt sah kurz auf und konzentrierte sich dann wieder auf die brennenden Kerzen, diese Sinnbilder der Unsicherheit des Daseins, die schon der leiseste Windhauch jederzeit ausblasen kann.
»Gut, reden wir mit diesem missmutigen Schwachkopf.«
Tarr setzte sich abrupt auf, als er das vernahm. Er erkannte Ermittler Rumex Jeryd, der sich mit seinem Gehilfen von einem der Treppenhäuser her näherte.
»Ah, Doktor Tarr – Sele von Jamur!«, begrüßte Jeryd ihn, als er vor dem Arzt stand.
»Sele von Jamur, Herr Ermittler!«, gab Tarr zurück und erhob sich.
»Was treibt Ihr bloß hier unten? Inzwischen seid Ihr mit dem Drumherum des Todes doch sicher vertraut?«
Der Arzt lächelte sanft, was Jeryd ziemlich auf die Nerven ging. »Vertraut bin ich mit dem Tod, aber nicht für ihn gerüstet. Ich habe viele verstümmelte Leichen gesehen, doch der Anblick von Ratsherr Boll war schlimmer als fast alles, was mir untergekommen ist.«
Jeryd blickte auf das Kerzenmeer vor ihnen. Dann sagte er: »Ich verstehe trotzdem nicht, warum Ihr hier seid. Ihr solltet den Toten doch bestimmt untersuchen?«
»Um ehrlich zu sein, gibt es da nicht mehr viel zu untersuchen«, erwiderte Tarr. »Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, dass das Leben uns ganz einfach, aber auch ganz schrecklich genommen werden kann, Herr Ermittler. Das Kaiserreich hatte es in den letzten Jahrzehnten leicht. Es gab keine großen Kriege, keine schlimmen Seuchen, keine bedeutenden Missernten. Wir waren fast so sicher, als hätten wir den Mutterleib nie verlassen. Seht Euch die Flammen an! Inzwischen sind wir eine belagerte Stadt. Krankheiten brechen in unseren Mauern aus, und jeder Sonnenaufgang bringt uns dem unabwendbaren Tod näher. Man fragt sich, was danach auf der anderen Seite geschieht.«
»Würdet Ihr uns bitte sagen, was Ihr gefunden habt, Doktor?«, unterbrach ihn Tryst.
»Natürlich. Ihr habt ganz recht, danach zu fragen. Kommt später ins Leichenhaus. Dort gibt es freilich außer Hackfleisch wenig zu sehen.«
Er seufzte leise. Heutzutage schien in Villjamur alles möglich zu sein.
»Davon habe ich nichts gewusst«, bekannte der Kanzler, und seine Bestürzung kam Jeryd nicht geheuchelt vor. Urtica fuhr sich durchs Haar und war offenkundig sprachlos.
Sie standen in Bolls Zimmertür und starrten auf den riesigen Blutfleck am Boden. Auch die Wände waren bespritzt, und selbst am Fenster klebte geronnenes Blut.
Jeryd war insgeheim
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