Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)

Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)

Titel: Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
Vom Netzwerk:
stumpfes Messer aus dem Stiefel und stupste das Gespinst an. Es war undurchsichtig und seimig und in seiner seltsamen Struktur fest mit dem Metallgeländer verbunden. Welches Geschöpf mochte so etwas herstellen?
    Wie so oft, wenn er keinen vernünftigen Grund für ein Phänomen fand, dachte Jeryd sofort an die Kultisten. Er zwirbelte die zähflüssige Masse auf die Schneide, zog sie in die Länge und prüfte ihre Beschaffenheit. Das Material war ihm unbekannt, und warum sollten Kultisten so etwas entwickeln? Er nahm ein Schnupftuch aus der Tasche, schmierte einen fetten Klecks Schleim hinein und schob es zurück in den Mantel. Ringsum war sonst nichts Verdächtiges zu entdecken; ein Stück entfernt lagen ein, zwei kaputte Masken, doch auf die stieß man in der ganzen Stadt.
    Jeryd verbrachte den Mittag beim Kommandeur und verzehrte eine schmackhafte Fischplatte, während der Albino lebhaft über Truppenbewegungen, Statistik und Wahrscheinlichkeiten sprach. Beide brachten ihre Ablehnung der unheimlichen Masken zum Ausdruck, hinter denen sich Villirens Bewohner verbargen. Was sollte dieser Unsinn? Sie saßen in der Kantine der Zitadellenkasernen, einem tristen Granitbau, durch den das ausgelassene Lachen der Soldaten dröhnte.
    Jeryd war beeindruckt, dass Brynd es trotz seiner viel höheren Stellung für angebracht hielt, dort mit seinen Untergebenen zu sitzen, und dachte: So eine Geste sagt viel über einen Menschen. Er sah Brynd mit derart abgezirkelten Bewegungen und so hervorragenden Tischsitten essen, dass er selbst fast Angst bekam, in Gegenwart des Kommandeurs etwas zu sich zu nehmen und sich dabei womöglich Soße aufs dunkle Gewand zu kleckern. Mitunter war er unwillkürlich von den brennenden Augen seines Gegenübers gebannt.
    »Was Euren Nachtgardisten Haust angeht, tappe ich, wie ich zugeben muss, noch immer im Dunkeln«, brummte Jeryd schließlich. »Einen einzelnen Menschen in einer so großen und chaotischen Stadt wie Villiren zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Dass er außerhalb der Armee keine Freunde hatte, macht die Sache noch schwerer, da wir daher kaum Spuren verfolgen können. Aber ich habe mich inzwischen davon überzeugt, dass – genau wie Ihr sagtet – noch viele weitere Personen verschwunden sind. Außerordentlich viele Personen, um genau zu sein.«
    »Das scheint Euch zu überraschen«, sagte Brynd gedehnt.
    »Allerdings.«
    »Könnte Kriegsfurcht dahinterstecken?«
    »Das hatte ich anfangs gedacht«, erwiderte Jeryd. »Aber während der Winterstarre sind die Leute hier in der Stadt sicherer als in der Wildnis. Außerdem scheint der drohende Krieg ihnen nicht viel auszumachen – ist Euch das nicht aufgefallen?«
    »Doch, aber ich habe festgestellt, dass der Mensch sich meist nicht mit dem großen Ganzen beschäftigt, sondern mit dem, was unmittelbar vor ihm liegt. Und angesichts dieses Wetters kann ich es den Leuten nicht verübeln. Habt Ihr Euch sonst noch Gedanken gemacht?«
    »Nun, warum auch immer: Die meisten Vermissten – sofern sie gemeldet wurden – sind zwischen Narbenhaus und Altstadt verschwunden sowie rings um die Zitadelle, in Allmende, Shanties und am Alten Hafen.«
    »Also in den wohlhabendsten Gegenden«, bemerkte Brynd.
    »Richtig. Findet Ihr das nicht ein wenig seltsam?«
    »Möglich, Herr Ermittler. Wie denkt denn Ihr darüber?«
    Jeryd musste zunächst ein Stück Krebs verspeisen. Donnerwetter, ist das lecker! »Nun, ich habe ein paar Vermutungen. Es könnte sein, dass die Armen sich nicht die Mühe machen, ihre Vermissten zu melden. Um Morde handelt es sich nicht, da zu wenige Leichen auftauchen, als dass dies wahrscheinlich wäre. Die meisten gefundenen Toten sind Opfer von Bandenkriegen. Bei den Vermissten hingegen handelt es sich um Leute, die meines Erachtens direkt von der Straße geraubt werden und komplett verschwinden.« Er gestikulierte beim Reden mit der Gabel. »Womöglich wurden die Reicheren schlicht entführt … «
    »… um sie gegen Lösegeld freizulassen, meint Ihr? Villiren ist immerhin ziemlich reich«, überlegte Brynd. »Ein Teil der Stadt ist in jüngster Zeit bestens gediehen, was mit Luttos Entwicklungspolitik zusammenhängt. Manchen Leuten geht es erheblich besser als vor zehn Jahren, vielen dagegen schlechter.«
    »Genau. Doch es gibt keine Lösegeldforderungen. Niemand hat Kontakt zu den Familien der Vermissten aufgenommen.«
    »Um wie viele Personen geht es eigentlich?«
    »Im letzten Halbjahr wurden vierhundertfünfundachtzig

Weitere Kostenlose Bücher