Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Unterhaltung langsam lebendig.
Bürgermeister Lutto war nach dem Erfolg seiner ausgreifenden Wirtschaftspolitik, die vor allem darauf gesetzt hatte, mit möglichst vielen Inseln des Kaiserreichs Handel zu treiben und Villiren so zu einem Zentrum des kaufmännischen Lebens zu machen, zum dritten Mal gewählt worden. Die Leute sagten, er habe seit der Entdeckung neuer Erzvorkommen für stetes Wirtschaftswachstum gesorgt. Die früheren Bürgermeister Fell und Gryph hatten nie Kapital aus den Mineralien geschlagen, die aus Tineag’l gekommen waren. Offenbar hatte es mehrere Attentatsversuche auf Lutto gegeben, doch alle waren erfolglos gewesen.
Seine Frau war die dralle Lady Oylga, Tochter des größten Grundbesitzers der Insel Y’iren. Je nachdem, wem Jeryd lauschte, ließ Lutto sich entweder von einer Vielzahl Huren in seinen Privatgemächern besuchen (vor allem von Rumelinnen, da deren harte Haut besondere Lust verschaffte), oder er hatte ein Verhältnis mit einem Star des Stadttheaters namens Felina Fetrix und gab ungeheure Mengen an Steuergeldern aus, um sie bei Laune zu halten und ihr Schmuck zu schenken.
Jeryd hörte sehr interessiert zu, als zwei Gäste in vornehmen Masken und goldbesetzten Gewändern an einem Ecktisch eine hitzige Debatte führten.
»Die Armen sind nicht mehr so arm wie früher, mein Lieber«, erklärte ein hässlicher Kerl mit Schnurrbart. Sogar die Augen seiner Maske wiesen schräg nach unten und gaben ihm eine finstere Miene. »Jedenfalls im Durchschnitt. Zugegeben, es gibt einige wenige – vor allem die größeren Landbesitzer – , die am meisten profitieren, doch das ist im Interesse aller. Unterdessen haben wir zwei, Ihr und ich –«
»Unsinn, Mensch«, rief der andere und schlug mit der Hand auf den Tisch, dass das Besteck klirrte. »Schaut Euch diesen Saal an! Schaut ihn Euch an! Wir verjubeln das Geld für Wein, Essen und einen Ball, während kaum zwei Straßen weiter eine Familie mit einer Schüssel Haferflocken eine Woche lang auskommen muss.«
»Ihr seid schon wieder betrunken, Ihr Weichling. Macht Euch den Erfolg unserer Stadt klar und trinkt noch einen Whisky.«
Jeryd schüttelte überdrüssig den Kopf. Wie viele dieser reichen Kinder würden dazu bereit sein, zum Schwert zu greifen, wenn der Krieg begann?
Ein Schrei –
Eine weibliche Stimme nahe dem Ausgang hatte ihn ausgestoßen. Bestürztes Gemurmel lief durch den Saal auf Jeryd zu.
Er drängte sich durch die Menge, wich nach links und rechts aus, sagte: »Verzeihung!« und »Pardon!«, und schlängelte sich unter flackernden Kronleuchtern und zwischen klirrenden Gläsern hindurch. Sein Ermittlerinstinkt war geweckt. Die kalte Luft, die durch die Türöffnung hereinwehte, fuhr ihm erfrischend kräftig ins Gesicht. Eine Frau in dickem grünem Gewand und Mantel und mit prächtig aufgestecktem Haar stand dort. Schluchzend drückte sie das Gesicht an die Schulter ihres Partners, und beider Masken lagen auf dem Boden.
»Ermittler Rumex Jeryd von Villirens Inquisition. Was geht hier vor?« Er griff in sein Gewand, zog ein Medaillon hervor und hielt es den beiden ungelenk hin.
Der Partner der Frau, ein großer, gut aussehender Mann in Schwarz, zuckte bloß die Achseln. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Ich hatte mich nur kurz umgedreht, und da … «
Die Frau – fast noch ein Mädchen – wies auf den Balkon, und Jeryd trat hinaus. Hinter ihm sammelte sich die Menge. Das Sternenlicht war teilweise durch Wolken verdeckt, doch man konnte die geschwungene Hafenlinie als einen von Straßenfeuern und Laternen gebildeten Saum erkennen, in dessen Licht Leute durch die Straßen gingen und Hunde den Wind anbellten, der geradezu stöhnend durch die Stadt zu streichen schien.
Und da war sie, ganz in der Nähe seines Standorts: die gleiche Substanz, die er am Nachmittag entdeckt hatte; eine zähe weiße Masse, die sich glitschig und wie ein Spinnenfaden vom Geländer zum nächsten Dach zog. Ein paar Tische und Stühle standen auf dem Balkon, und zwei davon waren ganz in die schleimige Pampe gehüllt.
Er drehte sich wieder zu der Frau um, die den Kopf noch immer abgewandt hielt. Dann bemerkte er ihre Armbänder und lackierten Nägel, die auffälliger waren als alles, woran er sich in Villjamur erinnern konnte.
»Habt Ihr gesehen, wie das zustande kam?«, fragte er und wies auf das klebrige Zeug.
Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Nein, aber da draußen hat sich etwas Großes bewegt. Ich hab es gleich gewusst, als
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