Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
schon wieder die Flügel aus. Nyroc folgte ihm. Kurz darauf entdeckten sie eine geeignete Höhle am Fuß einer Steilwand. Der Boden bestand aus festgebackener Erde. Gwyndor hob mit den Krallen eine flache Grube aus. Anschließend holte er erst ein paar Ästchen Reisig aus seinem Beutel, dann entnahm er seinem Glutbehälter mehrere noch rot glühende Kohlen. Als das Reisig Feuer fing, begann es in Nyrocs Magen zu kribbeln. „Tritt ruhig näher, Kleiner“, forderte ihn der Schmied auf.
Nyroc gehorchte. Gebannt schaute er in die Flammen. Die Hitze, die ihm entgegenschlug, spürte er gar nicht. Wie bei der Bestattung seines Vaters sah er schemenhafte Umrisse im Feuer, die ihm zugleich fremd und vertraut waren. Gwyndor beobachtete ihn. Schau hin, Kleiner, schau gut hin. Hab keine Angst vor dem, was dir das Feuer offenbart , beschwor er Nyroc im Stillen, zwang sich aber, den Schnabel zu halten. Die Schmiedin hatte Recht – Nyroc musste selbst darauf kommen, was ihm bevorstand.
Vor Nyrocs Augen drehte sich alles. Er keuchte. Ein Gewölle flog aus seinem aufgerissenen Schnabel, dann noch eines.
„Ruhig, Kleiner, ganz ruhig.“ Gwyndor tätschelte ihm mit der Flügelspitze den Rücken.
„Warum hast du mich hierhergebracht?“, fragte der junge Schleiereulerich mit zittriger Stimme. „Was ist eigentlich los?“
„Das darf ich dir nicht sagen.“
„Warum nicht?“
„Schau ins Feuer, dann findest du es selbst heraus.“
Widerstrebend richtete Nyroc den Blick wieder auf die Flammen. Gwyndor hätte ihn am liebsten angespornt, noch angestrengter hinzuschauen, aber der Kleine tat ihm leid.
Als Nyroc sich wieder umwandte, war er verändert. Er sah ernst und sehr erwachsen aus, fand Gwyndor. „Ich habe etwas im Feuer gesehen …“, sagte er tonlos, „aber ich verstehe es nicht. Ich kann es nicht glauben. Es ging um meine Eltern und um die Reinen …“
Gwyndor lag die Frage auf der Zunge, ob Nyroc in den Flammen auch gesehen hatte, worum es bei der Großen Feier ging, aber er beherrschte sich.
„Warum sehe ich so etwas?“, fragte der junge Schleiereulerich.
„Das weiß ich nicht.“
„Und ist es wahr, was ich sehe?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Kannst du nicht oder willst du nicht?“
„Ich will nicht“, gab Gwyndor widerstrebend zu. „Denn auch wenn ich dir sage, es ist wahr, würdest du daran zweifeln, dass ich Recht habe. Die Gewissheit, was wahr ist und was nicht, ist einzig und allein im eigenen Herzen und Magen zu finden.“
Nyroc fragte weiter: „Warum sollten die Reinen so etwas machen, wie ich es im Feuer gesehen habe?“
„Darauf kann ich nur erwidern, dass die Reinen öfter auf abwegige Gedanken kommen.“
„Wieso?“
Der Schmied dämpfte die Stimme. „Die Reinen haben zum Beispiel sonderbare Vorstellungen von Mut und Stärke.“ Gwyndor schüttelte den Kopf. „Ich kann es dir nicht erklären, weil ich es selbst nicht richtig verstehe.“ Schweigen trat ein. Beide Eulen waren in Gedanken versunken. Schließlich hatte Gwyndor eine Eingebung, wie er Nyroc weiterhelfen konnte, ohne ihm die erschütternde Wahrheit ins Gesicht zu sagen. „Hast du schon mal vom Sankt-Ägolius-Internat für verwaiste Eulen gehört?“, fragte er.
„Schon oft. Mein Volk hat das Internat erobert, aber da war ich noch nicht geschlüpft. Dort gibt es jede Menge Tupfen.“
„Nicht nur das. Es gab dort auch das sogenannte Glaucidium, in dem junge Eulen mondwirr gemacht wurden.“
„Was ist das – mondwirr?“
„Im Glaucidium mussten die verwaisten Eulenkinder im vollen Schein des Mondes auf und ab marschieren. Dieser sogenannte ,Schlafmarsch‘ sollte sie ihrer Persönlichkeit berauben und sie zu ergebenen Sklaven der Anführer von Sankt Ägolius machen. Wer mondwirr ist, kann nicht mehr klar denken und keine selbstständigen Entscheidungen mehr treffen. Er hat keinen freien Willen mehr.“
„Keinen freien Willen …“, wiederholte Nyroc nachdenklich. Aber was hat das alles mit mir zu tun? Oder mit meinem Volk, den Reinen? Oder mit meinen Eltern? Den Schlafmarsch haben sich die Sankt-Ägolius-Eulen ausgedacht. Als wir das Internat erobert haben, war damit Schluss.
Gwyndor legte dem jungen Eulerich den Flügel um die Schultern und zog ihn zu sich heran. Im abendlichen Dämmerlicht wirkte der Gesichtsschleier des Schmiedes noch dunkler. „Ich kann dir sagen, was das mit dir zu tun hat, Kleiner. Du hast nämlich einen freien Willen! Du kannst deine Entscheidungen überdenken, du
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