Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
stieß seinen Freund an. Der Rußeulerich bewohnte eine Höhle auf der unbeliebten Seite der Felswand, die dem Wind ausgesetzt war. „Philipp!“, raunte Nyroc dem Schlafenden ins Ohr.
„Wie? Was?“ Der Rußeulerich war mit einem Schlag hellwach. „Ach, du bist’s, Nyroc.“ Er blinzelte. „Es ist mitten am Vormittag. Was machst du hier? Warum schläfst du nicht?“
„Wir müssen von hier weg, Philipp, und zwar sofort. Ich erklär’s dir nachher.“
„Was ist denn los?“
„Nachher, hab ich gesagt.“ Nyroc konnte seinem Freund nicht hier und jetzt erzählen, was er im Feuer gesehen hatte. Außerdem hatte er eine Menge Fragen an Philipp, die ihm der Rußeulerich vielleicht nicht beantworten würde, wenn sie von lauter Reinen umgeben waren. „Wir haben einen Auftrag zu erfüllen, Philipp“, sagte Nyroc. „Ich muss mich auf die Suche nach der Wahrheit machen. Dabei brauche ich deine Hilfe.“
Philipp war überrascht und geschmeichelt zugleich. Dass er den künftigen Anführer des Tytonenbundes betreuen durfte, war zweifellos eine Ehre. Dass Nyroc ihn aber wie einen Gleichberechtigten aufforderte, ihm bei der Erfüllung eines Auftrags zu helfen, ging noch darüber hinaus. Zumal es sich um einen überaus wichtigen Auftrag zu handeln schien – schließlich ging es um nichts Geringeres als die Wahrheit.
„Wir können jetzt nicht losfliegen“, wandte er trotzdem ein. „Es ist hell. Die Krähen sind wach.“
„Wir müssen aber!“
Philipp überlegte kurz. „Während der Großen Brandschlacht war ich nicht am Uhutor eingesetzt, sondern an der gegenüberliegenden Reviergrenze. Ich kenne die Gegend gut. Vorn am Uhutor sehen uns die Posten sofort. Die gegenüberliegende Seite wird nicht so streng bewacht. Aber sag mir doch, was für eine Wahrheit du suchst, Nyroc, und wo du sie vermutest.“
Nyroc überhörte die erste Frage und beantwortete nur die zweite, die Frage nach dem „Wo“.
„Das weiß ich selbst noch nicht genau. Vielleicht in den Ödlanden oder im Waldkönigreich Ambala. Oder im …“, Nyroc holte tief Luft, „… oder im Großen Ga’Hoole-Baum.“ Nyroc staunte über sich selbst. Er hatte die verbotenen Worte ausgesprochen!
Philipp war baff. „Im Großen Baum!“, rief er aus. Insgeheim dachte er: Das ist doch verrückt! Er sprach es aber nicht aus, sondern erwiderte ganz vernünftig: „Wie kommst du denn darauf, Nyroc? Du weißt so gut wie ich, dass der Große Baum ein ganz schrecklicher Ort ist. Nicht umsonst ist uns verboten, über ihn zu sprechen.“
„Woher soll ich das wissen, wenn ich noch nie dort war? Ich muss den Großen Baum mit eigenen Augen sehen und dann selbst entscheiden.“
„Selbst entscheiden …“, wiederholte Philipp bestürzt. Wie kam sein Freund auf solche bedrohlichen Gedanken?
„Was spricht dagegen?“, fragte Nyroc.
„Einiges. Erstens muss man es auf dem direkten Weg nach Ga’Hoole mit den berüchtigten Schredderwinden aufnehmen. Den Wächtern von Ga’Hoole können die Schredder nichts anhaben, weil sie großartige Flieger sind. Für unsereinen sind sie lebensgefährlich.“
„Gibt es denn keinen anderen Weg nach Ga’Hoole?“, fragte Nyroc.
Ist der Kleine total gaga geworden? Glaubt er im Ernst, er kann einfach zum Großen Ga’Hoole-Baum fliegen und „ Hallo! “ sagen? Er ist seiner Mutter wie aus dem Gesichtsschleier geschnitten. Für die Wächter sind wir Todfeinde! Doch Philipp brachte es nicht übers Herz, seinem Freund zu erklären, dass Nyroc froh sein konnte, wenn er irgendwo außerhalb des Reviers der Reinen geduldet wurde. Seine Eltern Nyra und Kludd waren bei allen anderen Eulenvölkern gefürchtet und verhasst, auch noch nach Kludds Tod. Es ging sogar das Gerücht, dass Nyrocs Vater als Geisterschnabel zurückgekehrt war. Philipp hatte Uglamore und Stürmer darüber sprechen hören. Zu Nyroc sagte er: „Bestimmt kann man auch eine andere Strecke fliegen. Wir lassen uns etwas einfallen. Vielleicht findest du die Wahrheit, die du suchst, ja auch schon, wenn du dir mal andere Luft um den Schnabel wehen lässt und eine Weile von hier weg bist.“
„Sag ich doch. Ich muss einfach mal von hier weg.“ Und vielleicht nicht nur eine Weile, sondern für immer, dachte Nyroc.
Am helllichten Tag, als alle anderen Eulen schliefen, flogen die beiden Freunde nordwärts. Ein warmer Aufwind gab ihnen Anschub. „So fliegt es sich leicht“, sagte Nyroc.
„Das gilt für uns, aber jeder Vogel, der uns entgegenkommt, muss sich
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