Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
tüchtig anstrengen. Darum haben die Reinen damals auch nicht damit gerechnet, dass die Wächter von Ga’Hoole aus dieser Richtung hier einfallen, nämlich von den Nadeln aus“, entgegnete Philipp.
„Was für Nadeln?“
„Du wirst gleich sehen, warum sie so heißen. Hinter den Nadeln setzen die Schredderwinde ein. Aber das liegt ja nicht auf unserer Strecke.“
„Nein. Wir fliegen nämlich auf einem anderen Weg nach Ga’Hoole“, sagte Nyroc zuversichtlich.
Philipp schwieg. Je weniger er auf Nyrocs absurden Plan einging, desto besser.
Kurz darauf erblickte der junge Schleiereulerich auch schon die spitzen roten Felsen, die man „Nadeln“ nannte. Die beiden Eulen bogen nach Osten ab und flogen an einem lang gestreckten Gebirgszug entlang, als von dem Felsrücken plötzlich eine schwarze Wolke aufstieg.
„Krähen!“, schrie Philipp.
Nyrocs Flügel erlahmten. Beim Glaux – ich werde flügelstarr! Doch da fiel ihm ein, wie ihn seine Mutter einmal als „flügelstarren Nichtsnutz“ beschimpft hatte, als er etwas falsch gemacht hatte. Sie hatte gekeift: „Du flügelstarrer Nichtsnutz, du jämmerliches Gewölle! Ach was, Gewölle – das Wort ist noch viel zu gut für dich. Du benimmst dich wie der hinterletzte Schleimpupser!“ „Schleimpupser“ und „flügelstarrer Nichtsnutz“ waren die schlimmsten Beleidigungen, die es gab. Ich bin kein flügelstarrer Nichtsnutz! , dachte Nyroc jetzt trotzig.
Im selben Augenblick hörte er unter sich eine Ratte trippeln und ging unverzüglich in den Beuteanflug. Ihm kam gar nicht in den Sinn, dass er noch nie ein so großes Tier geschlagen hatte. Er stürzte sich von oben auf sein Opfer und brach ihm mit einem gezielten Schnabelhieb das Genick. Dann nahm er die tote Ratte in die Fänge.
Philipp tauchte neben ihm auf. „Was machst du da?“
„Hilf mir mal tragen. Das Vieh ist schwer.“
Philipp nahm den Schwanz des Nagers in die Zehen, fragte aber: „Wie kannst du jetzt ans Jagen denken? Die Krähen sind über uns!“
Doch zu seinem Entsetzen flog Nyroc geradewegs auf die Krähen zu. Sein weißes Gesicht war blutverschmiert. Er sah zum Fürchten aus.
„Na, Ratte gefällig?“, rief er. „Bitte sehr!“ Er landete auf einem Felsvorsprung, legte die Ratte ab und trat ein Stück zurück. Die hungrigen Krähen sammelten sich vor dem Felsen.
„Was soll das, Nyroc?“, zischelte Philipp.
„Lass mich nur machen.“
Da bin ich aber gespannt , dachte der Rußeulerich besorgt.
Nyroc nahm Drohhaltung ein, indem er sich zu doppelter Größe aufplusterte und die Flügel ausbreitete. Beim Sprechen drehte er den Kopf hin und her und knackte mit dem Schnabel. Er rief den Krähen zu: „Die Ratte hat rotes Fleisch. Sie schmeckt viel besser als mein Freund und ich mit unseren Federn und hohlen Knochen. Die Mahlzeit reicht für euch alle!“
Genial! , dachte Philipp. Krähen waren keine guten Jäger. Ihre Stärke lag darin, andere Vögel zu schikanieren. Sie ernährten sich von dem, was von der Beute fremder Jäger übrig blieb. Frischfleisch war für sie ein seltener Leckerbissen. Als Nächstes vollführte Nyroc eine für Schleiereulen typische Drohgebärde. Er beugte sich tief hinunter, aber ganz anders als bei einer ehrerbietigen oder unterwürfigen Verneigung, und ruckte beim Sprechen mit dem Kopf. „Wenn ihr uns in Ruhe lasst, gehört die Ratte euch.“
Der Anführer der Krähen musterte ihn prüfend. Nyroc konnte ihn nicht einschätzen. Fand das Krähenmännchen tatsächlich, dass die Ratte eine erstrebenswertere Beute war als Philipp und er? Der Schwarm ließ sich auf einem benachbarten Felsen nieder.
„Das Fleisch ist sogar noch blutig – es wird köstlich schmecken. Entscheidet euch!“, setzte er hinzu und wartete ab.
Ein paar Sekunden vergingen, dann näherten sich die Krähen der toten Ratte.
„Halt!“, rief Nyroc in so gebieterischem Ton, dass er selbst verblüfft war. Auch Philipp blinzelte erstaunt. „Erst müsst ihr den anderen Krähenschwärmen in der Umgebung durch einen Boten ausrichten lassen, dass sie uns freies Geleit geben sollen.“
Ganz schön vorausschauend für sein Alter! , dachte Philipp beeindruckt.
Nyrocs Magen bebte freudig. Es klappt!
Auf dem Weiterflug wurden sie tatsächlich nicht mehr von Krähen belästigt. Doch als die Sonne unterging, erwachte eine andere, noch viel größere Bedrohung.
Nyra war aufgewacht. Zu ihrer Überraschung war Nyrocs Lager leer. „Nanu?“, sagte sie halblaut. „Wo steckt er denn?“
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