Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
furchtbar leid. So war diese Feier nicht gedacht. Es ist nicht dein Blut, das dabei vergossen werden soll.“ Ihre Stimmung schlug abermals um. Sie sträubte das Gefieder und ihre schwarzen Augen funkelten rachsüchtig. Noch bevor Nyroc richtig mitbekam, was passierte, hatte sie sich auf Philipp gestürzt. Nyroc wurde vor Schreck flügelstarr. Doch er hätte dem Freund ohnehin nicht mehr helfen können. Der Rußeulerich lag schon sterbend auf der Erde.
„Philipp!“ Nyroc hüpfte zu seinem Freund hinüber. Philipps Kopf war verdreht und in seiner Brust klaffte eine tiefe Wunde. „Flieg weg, Nyroc, flieg weg“, röchelte er mit letzter Kraft.
Plötzlich beugte sich Nyra über ihn und riss ihm das noch schlagende Herz heraus.
„Ich hasse dich!“, schrie Nyroc seine Mutter an.
„Das denkst du jetzt nur, mein Schatz. Du wirst bald darüber hinwegkommen“, erwiderte Nyra säuselnd. „Die Sache bleibt unser kleines Geheimnis. Den anderen erzählen wir, dass du Schmuddel getötet hast.“
Nyroc funkelte seine Mutter böse an. Der junge Eulerich hatte nur einen Gedanken: Ich muss weg von hier – auch wenn mein Gesicht blutet und die Hälfte meiner Schwanzfedern fehlt.
„Wir erzählen es niemandem.“ Nyras Ton war beinahe flehend. „Du hast deine Große Feier bestanden. Ist das nicht toll? Es macht gar nichts, dass wir ein bisschen geschummelt haben. Wenn du mehr Zeit gehabt hättest, dich darauf vorzubereiten, hättest du es auch allein geschafft.“
„Du … kapierst … überhaupt … nichts!“ Nyroc sprach langsam und überdeutlich.
„Du bist meine Welt, Nyroc, meine ganze Welt!“
„Wenn ich deine Welt bin, will ich in dieser Welt nicht leben.“
Nyroc schwang sich in die Lüfte. Jeder Flügelschlag schmerzte unerträglich, aber davon ließ er sich nicht aufhalten. Zum ersten Mal hatte er aus freiem Willen eine Entscheidung getroffen. Aber warum tut das so weh? , dachte er.
Nun war Nyroc ganz allein. Er wusste nicht, wo er hinfliegen sollte und was ihn erwartete. Er wusste nur, was er hinter sich lassen wollte: die verbrannte Felswüste, die Reinen, seine Mutter und das blutige Schauspiel, das sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte. Die Nacht war kalt und windstill. Nyroc war zwar geschwächt, aber er dachte wieder und wieder: Auf und davon, auf und davon! Es war beinahe wie ein Lied.
Er schaute nach unten. Bäume … Schade, dass es Nacht ist. Sonst könnte ich sehen, ob sie grün sind . Die Zweige sahen aus, als wären sie mit lauter schwarzen Nadeln gespickt. Ach richtig, es ist ja Winter. Philipp hat mir erklärt, dass Laubbäume im Winter kahl sind.
Nyrocs Magen krampfte sich jäh zusammen. Ich darf jetzt nicht an Philipp denken … auf und davon, auf und davon! Ob unter mir der Schattenwald ist? Die Ödlande können es nicht sein. Dort wachsen nicht so viele Bäume. Philipp hat mir erklärt … Halt! Nyroc verbot sich weiterzudenken.
Da verließ ihn auf einmal alle Kraft. Er musste sofort landen. Kreisend ging er in den Sinkflug. Das war nicht einfach, weil er so viele Steuerfedern verloren hatte. Die Bäume unter ihm standen dicht an dicht. Ob in ihren Stämmen Höhlen waren? Ihm war jeder Landeplatz recht. Unter ihm funkelte es gleißend. Der Mond ist auf die Erde gestürzt! Unsinn – der Mond spiegelt sich im Wasser. Dort unten ist ein See. Seen kannte Nyroc bis jetzt nur vom Hörensagen. Er nahm Kurs auf die Wasserfläche.
Der See war zum größten Teil schon von einer dünnen Eisschicht bedeckt. Nyroc trippelte ans Ufer und schaute an einer noch offenen Stelle ins Wasser. Als er sein Spiegelbild erblickte, schnappte er nach Luft. Quer über sein Gesicht zog sich eine Narbe – wie bei seiner Mutter. Nur dass seine Narbe von links oben nach rechts unten verlief und die seiner Mutter von rechts oben nach links unten. Außerdem war Nyrocs Narbe noch frisch und blutverkrustet. Der junge Schleiereulerich dachte schaudernd: Ich sehe genau wie meine Mutter aus!
Im selben Augenblick geschah zweierlei. Mitten aus dem See stieg plötzlich Nebel auf. Der Nebel verdichtete sich zu einem verschwommenen Umriss. Eine Maske … eine Eisenmaske! Dann kam es Nyroc plötzlich vor, als wäre er aus seinem Körper geschlüpft und schwebte über dem See. Doch als er an sich hinunterschaute, sah er, dass sich seine Krallen in die Uferkiesel gruben. Konnte man an zwei Orten gleichzeitig sein? Ausgeschlossen! Nyroc hörte jemanden sagen: Komm her, Kleiner. Komm her und huldige mir! Die
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