Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
hätte er nicht für seinen Schützling sein Leben geopfert. Ausgerechnet Nyra hatte Philipp umgebracht, obwohl sie ebenfalls behauptete, Nyroc zu lieben. Wie viele Arten von Liebe gab es denn?
Und was war mit Nyrocs Onkel Soren? Hatte Soren seinen Bruder immer noch geliebt, obwohl dieser ihn bei seiner Großen Feier hatte töten wollen? Hatte er deshalb bei dem Gefecht in der Höhle gezögert, Kludd den Garaus zu machen?
Was bedeutete das überhaupt – Liebe? Bedeutete es, jemand anderen gut zu kennen und ihm zu vertrauen? Im Herzen und im Magen zu spüren, dass jemand es ehrlich meinte? Vielleicht gehören Liebe und Vertrauen zusammen wie die beiden Flügel einer Eule , dachte Nyroc. Eines hatte er jedoch begriffen: Liebe war stärker als Hass. Hätte Nyroc Philipp nicht geliebt, hätte er niemals gewagt, sich seiner Mutter zu widersetzen. Hätte er Philipp nicht geliebt, hätte er dem Geisterschnabel seines Vaters nicht ins maskierte Gesicht gesagt, dass er niemals zu den Reinen zurückkehren würde. Vielleicht war es ja eben auch Liebe oder die Hoffnung auf Liebe, die ihn nach der Wahrheit suchen ließ – und nach seinem Onkel Soren. Liebe war offenbar ein mächtiger Antrieb.
Nyroc verließ seine Baumhöhle immer erst frühmorgens. Womöglich hatte Nyra wieder einen Suchtrupp ausgeschickt. Nyroc wollte keinesfalls riskieren, dass irgendwelche Spitzel ihn entdeckten und die Reinen verständigten. Darum schlief er gegen alle Eulengewohnheit nachts und jagte tagsüber.
Jeden Morgen hörte er andere Eulen von der nächtlichen Jagd zurückkehren. Eltern und Kinder plauderten dann in ihren Baumhöhlen miteinander und verzehrten das Tagmahl. Manchmal versteckte sich Nyroc im Unterholz am Fuß eines Baumes und lauschte. Die Euleneltern versprachen ihren Kindern oft, ihnen eine Gut-Licht-Geschichte zu erzählen, wenn sie ihre Maus brav auffraßen.
Auf diese Weise machte Nyroc Bekanntschaft mit den Legenden von Ga’Hoole. Gleich die erste Legende, die er aufschnappte, handelte von König Hoole. Leider verstand Nyroc nur Bruchstücke. Er fand diese Legende besonders spannend, weil seine Mutter behauptet hatte, er selbst gleiche dem sagenhaften Stammvater aller Eulen. War das nun gut oder schlecht? Doch ein Sturm zog auf, die Bäume knarrten und der Wind trug die Worte davon wie welke Blätter.
Zum Glück war die nächste Nacht windstill. Nyroc bekam eine Legende zu hören, die aus dem sogenannten Feuerzyklus stammte, wie die fremde Eulenmutter ihren Kindern erklärte.
Es war zur Zeit der großen Vulkanausbrüche in den Hinterlanden. Schon seit vielen Jahren züngelten die Flammen gen Himmel. Tag und Nacht tauchte der Feuerschein die Wolken in glühendes Rot. Lange hatten die Vulkane geschlummert, aber jetzt waren sie wieder erwacht. Staub und Asche bedeckten das Land, als zürnte der Große Glaux persönlich den Eulen. Doch um dieselbe Zeit schlüpfte Gränk, der erste Glutsammler, aus dem Ei und eine kleine Schar Eulen lernte, das Feuer zu zähmen.
Die Legende handelte davon, wie der Kreischeulerich Gränk sich selbst beibrachte, in der Vulkanglut alle möglichen Waffen und Gerätschaften zu schmieden. Gränk erforschte auch die Luftwirbel, die über einem Feuer speienden Vulkan entstehen, und die tückischen Blasen aus giftigem Gas, die Vögel und andere Tiere töten können. Schließlich befand Gränk, dass er alles über Feuer, Flammen und Glut wusste. Doch eines Nachts mitten im Winter wurde er eines Besseren belehrt. Ein Schneesturm tobte und alles war dick verschneit. Ein kleinerer Vulkan war ausgebrochen. Die ausgestoßenen Glutbrocken waren in den Schnee gefallen und sofort erloschen. Nur einer nicht. Dieser besondere Glutbrocken sah auch ganz ungewöhnlich aus. An dieser Stelle dämpfte die fremde Eulenmutter geheimnisvoll die Stimme. Nyroc spitzte die Federohren. Der Glutbrocken leuchtete nämlich in der Mitte nicht rötlich, sondern blau. Als Gränk noch einmal hinsah, erkannte er, dass das Blau am Rand in leuchtendes Grün überging. Gränk hatte die Glut von Hoole entdeckt.
Nyroc machte große Augen. Das gleiche Farbenspiel hatte er im Bestattungsfeuer seines Vaters erblickt! Doch er konnte den Gedanken nicht weiter verfolgen, weil die Eulenkinder über ihm auf einmal Radau machten. „Er ist weg!“, piepste ein Stimmchen. Die Eulenmutter schimpfte: „Ich hab euch schon tausendmal gesagt, dass man nicht mit dem Fressen spielt! Natürlich ist der Käfer jetzt weggekrabbelt. Nun müsst ihr also
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