Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
über neunzehn waren höhere Mathematik, hatte Philipp gemeint. Höhere Mathematik beherrschten nur die Wächter von Ga’Hoole, weil sie die klügsten Eulen der Welt waren. Ich habe wirklich Glück gehabt , dachte Nyroc. Immerhin sind meine Handschwingen noch vollzählig. Ohne diese kräftigen Federn kann man nicht vernünftig fliegen. Nyroc drehte sich wieder ein Stück herum und spähte ins Wasser. Mein Gesichtsschleier ist auch beinahe unversehrt. Mein Schwanzgefieder hat gelitten und mir fehlt eine Armschwinge, aber meine Flügel sind noch dran. Ich bin eine Eule. Und ich kann fliegen – einigermaßen.
Er verbot sich, wie ein kleines Küken zu jammern: „Das ist gemein!“ In dieser Nacht hatte Nyroc seine Kindheit unwiderruflich hinter sich gelassen.
Er war noch kein halbes Jahr alt, doch er war jetzt ein erwachsener Eulerich, wenn auch ein ziemlich zerrupfter. Und trotz seiner abscheulichen Eltern gehörte er einer vornehmen Vogelart an.
Nun musste er sich irgendwo verstecken und abwarten, bis seine Federn nachgewachsen waren. Hier am See befand er sich bestimmt im Revier einer fremden Eule, die gar nicht damit einverstanden wäre, wenn er sich in einer Baumhöhle niederlassen würde. Er musste sich also mit einem Versteck am Boden begnügen. Was das Fressen betraf, so würde er Mäuse und andere Nager hören, wenn sie über den Uferkies huschten. Insekten gab es wahrscheinlich keine mehr. Dafür war es zu kalt. Es schneite ja schon.
Weiter oben war ein Baum umgestürzt. Der mächtige Wurzelstock lag frei. Halb fliegend, halb hüpfend erklomm Nyroc die Uferböschung. Vielleicht fand er hier einen Unterschlupf, wo er sich von allen Strapazen erholen konnte.
Tatsächlich entdeckte Nyroc zwischen den verschlungenen Wurzeln eine Vielzahl von geeigneten Verstecken. Auch im Stamm des Baumes gab es etliche Höhlen, die allesamt unbewohnt zu sein schienen. Nyroc hatte schon befürchtet, dass er auf einen Fuchs stoßen würde. Einem Kampf war er in seinem Zustand nicht gewachsen. Leider scheuchte er auch kein Streifenhörnchen und keine Ratte auf. Inzwischen hatte er nämlich schrecklichen Hunger.
Aber vor allem war er todmüde. Als der Morgen anbrach, schlüpfte er in eine Höhle auf halber Höhe des umgestürzten Baums. Vor lauter Erschöpfung fiel ihm gar nicht auf, dass er auf einem Lager aus so wunderbar weichem Moos lag, wie Philipp es ihm beschrieben hatte – Hasenohr-Moos.
Als Nyroc am Abend erwachte und ins Freie lugte, war ringsum alles weiß. Sogar der See lag unter einer hohen Schneedecke verborgen. Hunger! , war Nyrocs erster Gedanke. Doch der Schnee dämpfte alle Geräusche. Wie sollte er da ein Beutetier orten?
Nyroc verließ die Höhle und schaute sich blinzelnd um. Mit seinem schütteren Gefieder fror er, aber der Hunger war stärker. Auf einmal hörte er hinter sich etwas krabbeln. Das Geräusch kam aus seiner Höhle. Hatte etwa doch ein Insekt die Kälte überlebt? Andererseits war es drinnen im Baumstamm nicht kalt. Auch beim Schlafen hatte Nyroc nicht gefroren. Da krabbelte ihm plötzlich etwas geradewegs vor den Schnabel. Nyroc schaute gar nicht richtig hin, sondern schnappte zu. Seine Beute war außen knackig und innen weich – lecker! Nyroc schlang sie mit einem Happs hinunter. Sein Hunger war sofort gelindert. Da erschien schon das nächste Krabbeltier. Nyroc verschlang den Käfer und kratzte mit der Kralle an dem kleinen Loch, aus dem das Insekt gekrabbelt war. Er stellte fest, dass der Baumstamm von unzähligen kleinen Gängen durchzogen war. Hatte Uglamore ihm nicht einmal erzählt, dass es kein ergiebigeres Vorratslager gab als einen morschen Baum? In morschem Holz lebten alle möglichen Würmer und Insektenarten. Wie sie hießen, wusste Nyroc nicht, aber auf jeden Fall machten sie satt.
Glaux selbst hatte ihn zu dem morschen Baum geführt. Insekten waren zwar nicht so nahrhaft wie Fleisch, aber Nyroc fühlte sich schon viel kräftiger. Wenn seine Federn nachgewachsen waren, konnte er auch wieder auf die Jagd fliegen. Vielleicht war bis dahin ja der Schnee geschmolzen.
Nyroc fraß und schlief, fraß und schlief. In seiner Baumhöhle fühlte er sich fürs Erste sicher.
Körperlich kam er rasch wieder zu Kräften. Er hatte aber auch viel Zeit zum Nachdenken. In seinem Unterschlupf war es zwar warm und gemütlich, doch er fühlte sich einsam. Sein einziger Freund war tot. Philipp hatte nie darüber gesprochen, aber Nyroc ahnte, dass der Rußeulerich ihn geliebt hatte, sonst
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