Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
Stimme war ihm fremd. Er sah sich auf den Nebel zufliegen, aber er war selbst nur eine Art Schatten. Die Nebelmaske ist der Geisterschnabel meines Vaters.
Du hast’s erfasst, Kleiner. Ich bin es – wie deine Mutter es dir prophezeit hat. Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen, Nyroc. Du musst umkehren.
Du bist hier, weil du auf Erden noch etwas zu erledigen hast, stimmt’s? , fragte Nyroc stumm.
Stimmt. Und du sollst die Sache für mich übernehmen, Kleiner.
Worum geht es denn?
Die Maske schwieg.
Es ist nicht meine Aufgabe, deine unerledigten Angelegenheiten zu Ende zu bringen. Ich habe einen eigenen freien Willen.
Ha-ha-ha! Das klirrende Gelächter jagte Nyroc einen eisigen Schauer durch den Magen.
Seine Mutter hatte Recht behalten. Der Geisterschnabel seines Vaters würde ihn sein restliches Leben lang verfolgen. Nyroc war sterbensmüde. Ihm wurde alles zu viel. Am liebsten hätte er geweint. Er war am Ende.
Ja, du bist wirklich am Ende . Der Geisterschnabel sprach aus, was Nyroc dachte.
Wie meinst du das?
Sieh dich doch an! Wir Schleiereulen sind die prächtigsten und vornehmsten aller Vögel. Verängstigt und gerupft, wie du bist, kann man dich kaum eine Eule nennen und schon gar nicht prächtig.
Vielleicht sollte ich wirklich umkehren … Kaum hatte Nyroc das gedacht, klirrte es auch schon aus dem Eisenschnabel: Ja, vielleicht solltest du umkehren.
Auf keinen Fall! Wie konnte ich so etwas denken? Nyroc schüttelte sich. Das waren nicht seine Gedanken. Der Geisterschnabel schlich sich in seinen Kopf ein.
Tja, umkehren oder nicht umkehren – das ist hier die Frage, mein Sohn.
Gar nicht , erwiderte Nyroc trotzig.
Oh doch. Wir Schleiereulen sind vornehm, aber die Reinen übertreffen alle anderen Vögel.
Ihm fiel wieder ein, was Philipp gesagt hatte, als er, Nyroc, sich gemausert hatte und darüber so furchtbar erschreckt war? Du bestehst nicht nur aus deinen Federn .
Nyroc nahm allen Mut zusammen. Dabei sah er nicht wie sonst die Kampfkrallen seines Vaters vor sich, sondern ihm erschien ein anderes Bild: ein schemenhafter Baum auf einer Insel. Es war aber kein gewöhnlicher Baum, sondern ein Ort, an dem Wahrheitsliebe und Edelmut regierten. Nyroc schaute die unheimliche Geistermaske an und sagte stumm: Ich bestehe nicht nur aus meinen Federn. Es waren nicht meine Federn, die mit den Krähen gesprochen haben. Es waren nicht meine Federn, die auf die Idee gekommen sind, ihnen einen Tauschhandel anzubieten. Ich habe auch noch einen Magen und einen Verstand.
Was plapperst du für einen Unsinn? Selbst wenn du gar keine Federn mehr hättest, solltest du stolz darauf sein, dem Tytonenbund anzugehören und für ihn kämpfen zu dürfen. Wie kannst du deine Mutter so verraten, du erbärmlicher, flügelstarrer Nichtsnutz?
Nyrocs Magen wand sich vor Furcht und Verzweiflung. Er konnte kaum noch klar denken. Doch er riss sich zusammen und entgegnete: Ich bin kein erbärmlicher, flügelstarrer Nichtsnutz! Meine Mutter hat meinen besten Freund umgebracht. Ich werde nicht zu ihr zurückkehren – niemals! Im Gegenteil, vielleicht lege ich eines Tages Kampfkrallen an und ziehe gegen die Reinen in den Krieg!
Dann merkte er, dass er wieder in seinen Körper zurückschlüpfte. Die schaurige Geistermaske verschwand. Nyroc schaute auf seine Füße. Er stand noch auf der gleichen Stelle am Seeufer, aber er zitterte wie ein junger Baum im Sturm.
Schließlich hatte er sich wieder beruhigt und begutachtete sein ramponiertes Gefieder. Als er auf die glatte schwarze Wasseroberfläche schaute, blickte ihm wieder sein Gesicht mit der Narbe entgegen, die ihm seine eigene Mutter zugefügt hatte. Von den kurzen dunklen Federn am Rand seines Gesichtsschleiers fehlten etliche. Nyroc drehte sich langsam um sich selbst und blickte zwischendurch immer wieder mit schief gelegtem Kopf ins Wasser. Meine Fransen sind futsch. Wahrscheinlich mache ich jetzt fürchterlichen Lärm beim Fliegen. Von den Steuerfedern am Schwanz sind auch nur noch wenige übrig. Kein Wunder, dass mir das Landen so schwergefallen ist. Die Handschwingen an den Flügeln scheinen noch alle da zu sein. Aber wo ist meine elfte Armschwinge geblieben?
Philipp hatte Nyroc nicht nur ein paar Buchstaben beigebracht, sondern auch Zahlen. Allerdings konnte der Rußeulerich nur bis neunzehn zählen, denn so viele Federn haben Schleiereulen an jedem Flügel. Die Federn eins bis zehn nennt man Handschwingen, die Federn elf bis neunzehn Armschwingen. Alle Zahlen
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