Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
Wenn es wärmer wurde, schickte Nyra womöglich wieder Suchtrupps aus. Nyroc hatte auch keine Lust, am See noch einmal dem Geisterschnabel seines Vaters zu begegnen. Sobald es richtig Frühling geworden war, wollte er aufbrechen. Er wollte zum Silberschleier-Wald fliegen. Dort war Philipp aufgewachsen und er hatte Nyroc oft von den prächtigen uralten Bäumen vorgeschwärmt.
Bald sprossen die ersten Pflanzentriebe aus der Erde. Nyroc sah zum ersten Mal etwas Grünes und war hingerissen.
Als der Sommer anbrach, wohnte Nyroc immer noch in dem umgestürzten Baum. Auf dem See trieben jetzt wunderschöne rosa Blüten mit großen runden Blättern.
Bei seinen frühmorgendlichen Ausflügen hatte Nyroc nicht nur belauscht, wie die Eulenmütter ihren Kindern Legenden erzählten, er hatte auch viel über den Alltag in normalen Eulenfamilien erfahren. Die Eltern gingen sehr liebevoll mit den Kindern um. Sie schimpften selten und wenn doch, dann ging es meistens um „Manieren“. Fast so schön wie die alten Legenden fand Nyroc die Schlaflieder, die die Eulenmütter den Küken vorsangen.
Warum hat meine Mutter mir nie ein Schlaflied vorgesungen? Das erste Morgenrot färbte den Himmel und Nyroc saß wieder einmal unter einem Baum, in dem eine Raufußkauz-Familie wohnte. Die Kauzmutter erzählte mit ihrer typisch melodischen Stimme eine von Nyrocs Lieblingslegenden.
Vor langer, langer Zeit, ehe es noch Eulenkönigreiche gab, in einer Zeit nicht enden wollender Kriege, erblickte im Land der Nordwasser ein Eulenküken das Licht der Welt. „ Hoole “ nannten seine Eltern ihren kleinen Sohn. Manche behaupten, schon als er geschlüpft sei, habe sich ein Zauber gezeigt. Wie dem auch sei, Hoole besaß von Anfang an ungewöhnliche Fähigkeiten. Man weiß, dass er andere Eulen zu großen Taten anspornte und dass ihn seine Miteulen als ihren König anerkannten, auch wenn er keine goldene Krone trug. Denn seine Hilfsbereitschaft, seine Rechtschaffenheit und sein Mut adelten ihn und kamen einer Krone gleich. Er schlüpfte in einem Wald aus hohen Bäumen in eben jenem Augenblick, da das alte Jahr ins neue übergeht, und der Wald war in jener klirrend kalten Nacht von Eis bedeckt.
Als die Geschichte zu Ende war, waren die Eulenkinder eingeschlafen. Nyroc dagegen musste wieder einmal im Licht des anbrechenden Tages auf die Jagd fliegen. Das war doch kein Leben! Er hatte es gründlich satt, sich versteckt halten zu müssen. Trotzdem konnte er sich noch nicht überwinden, seine Zuflucht am See endgültig zu verlassen. Es war die schönste Unterkunft, in der er je gelebt hatte. Die Höhle war mit Moos ausgepolstert und im morschen Holz wohnten so viele Insekten, dass er immer satt wurde.
Bald , dachte Nyroc, aber noch nicht heute. Auch wenn meine Federn nachgewachsen sind und ich wieder so gut fliegen kann wie vorher – jetzt noch nicht.
Ein Wald bei Tag und ein Wald bei Nacht sind nicht das Gleiche – schon gar nicht im Sommer. Dann liegt tagsüber brütende Hitze über den Bäumen und es ist ganz still. Nur ab und zu summt eine Biene oder ein Fisch schnellt in hohem Bogen aus einem Teich. Sonst hört man vom Vormittag bis zum späten Nachmittag keinen Laut.
Erst wenn es dunkel und kühl wird, erwacht der Wald zum Leben. Die Eulen, Luchse, Füchse und Waschbären begeben sich auf Futtersuche. Im See gleiten die Otter und Bisamratten von ihren Baumstämmen und pflügen durchs Wasser. Die Glühwürmchen tanzen durchs Uferschilf. Nyroc sehnte sich danach, an diesem lebhaften Treiben teilzunehmen – aber er traute sich nicht.
Trotzdem geriet er jede Nacht in Versuchung, sein Versteck zu verlassen. Pünktlich bei Sonnenuntergang erschien ein rundliches Kaninchen vor seiner Höhle. Das Kaninchen kauerte sich vor einen nahe gelegenen Busch oder Baum und blieb sitzen, bis der Mond hoch am Himmel stand. Manchmal stellte es sich auch auf die Hinterbeine und verharrte lange in dieser Haltung. Es war immer dasselbe Kaninchen. Nyroc begriff nicht, weshalb es nicht längst einem nächtlichen Jäger zum Opfer gefallen war. Gerade Eulen hatten eine Vorliebe für Kaninchen und der Wald war voller Eulen. Jede Nacht beobachtete Nyroc das Kaninchen mit knurrendem Magen. Beim Gedanken an das saftige Fleisch lief ihm das Wasser im Schnabel zusammen.
Eines Morgens hatte Nyroc dem letzten Gut-Licht-Lied gelauscht, das aus einer benachbarten Tanne erklang. Das Kauzkind hatte zwar gebettelt: „Nur noch eine Geschichte, Papa!“, aber der Vater hatte
Weitere Kostenlose Bücher