Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
Eulenkinder standen still und eine ganze Weile hörte man es nur noch knirschen und knacken. Soren wunderte sich, dass niemand ein Wort sagte. Eulen redeten doch sonst immer beim Fressen. Seine kleine Schwester Eglantine plapperte manchmal so viel, dass die Mutter sie erinnern musste: „Friss auch die Beine vom Käfer, Eglantine! Wenn du dauernd redest, lässt du ja das Beste liegen.“
Dass keiner sprach, störte Soren, und überhaupt war es in den Steinschluchten des Sankt Äggie bedrückend still. Gewiss, man hörte den Wind heulen und Eulenkrallen über den Stein klacken, aber das war auch schon so gut wie alles. Man fühlte sich von der Umgebung abgeschnitten, von der Welt, sogar vom Himmel. Soren wurde allmählich klar, dass sich das ganze Leben der Eulen hier, falls man es überhaupt ein Leben nennen konnte, ausschließlich in den tiefen Felsschluchten und engen Gängen des Sankt Äggie abspielte. Es gab kaum Wasser, nur hier und da ein Rinnsal, in das man den Schnabel tunken konnte, und Soren fand weder Laub noch Moos noch Gras, nichts von all dem, was die Welt angenehm weich machte. Mit seinen schroffen Vorsprüngen und Felsnadeln glich das Sankt Äggie einem steinernen Wald.
Die Frühstückspause war fast um, man hörte nicht mal mehr Krallengeräusche, sondern nur das Knacken der Grillenpanzer. Neben Soren murrte ein Eulenkind: „Ich hätte ja lieber ein Stück Rattennatter.“
„Ach j a …“, seufzte Soren und dachte an Mr s Plithiver. Aus Rücksicht auf die Nesthälterin verzichtete Sorens Familie prinzipiell auf Schlangenfleisch. Mr s Plithiver pflegte zwar zu sagen, das sei übertrieben: „Mit Rattennattern oder Bullennattern habe ich kein Mitgefühl, die kann sowieso keiner leiden. Ihr braucht keine Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich bin nicht so empfindlich.“ Trotzdem mieden Sorens Eltern diese Art Nahrung. „Aus Feingefühl gegenüber einer anderen Spezies“, wie sich Sorens Vater ausdrückte. Soren wusste nicht, was damit gemeint war. Mr s Plithiver hatte doch gesagt, sie habe mit anderen Schlangen kein Mitgefühl. Allerdings hatte Soren den Verdacht, dass die Nesthälterin in diesem Punkt schwindelte, denn Mr s Plithiver war sonst ausgesprochen mitfühlend. Soren hatte sie schrecklich gern, und sein Herz schlug schneller, als er sich daran erinnerte, wie sie von der Bruthöhle herunter nach ihm gerufen hatte. Sich den Klang ihrer Stimme vorzustellen, rührte ihn zu Tränen. Wie mochte es ihr in jener Nacht ergangen sein? Hatte Kludd auch ihr etwas angetan? Oder war es ihr gelungen, Hilfe herbeizuholen? Ob sie oft an Soren dachte? Ob seine Eltern oft an ihn dachten und sich nach ihm sehnten? Abermals gab es Soren einen schmerzhaften Stich. Beim Gedanken an Kludd überlief ihn ein Zittern.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte Gylfie. Sie war so klein, dass sie Soren kaum bis an die Flügelspitzen reichte.
„Nein, mir geht’s gar nicht gut“, stieß Soren hervor. „Wie auch? Denkst du denn gar nicht an deine Eltern? Hast du keine Sehnsucht nach ihnen? Kommt es dir nie in den Sinn, dass sie sich Sorgen um dich machen?“
„Doch, schon, aber das tut einfach zu weh, darum lasse ich es meistens bleiben. Du musst dich zusammenreißen, Soren. Denk doch an unseren tollen Plan!“
„Zusammenreißen? Du ahnst ja nicht, was ich vorhin über meinen Bruder herausgefunden habe!“
Darauf ging Gylfie nicht ein. „Wir müssen uns jetzt ranhalten. Du musst es irgendwie schaffen, dass du fürs Gewöllorium eingeteilt wirst.“
„Gewöllorium?“, wiederholte Soren verständnislos.
Im Gewöllorium
Plötzlich stand Tante Finny vor ihm. „Grillenjäge r … Du bist der ideale Grillenjäger! In unserer herrlichen Felsenwelt dauert die Grillensaison nämlich viel länger als anderswo. Die Grillen verkriechen sich in den Felsspalten und kommen erst mittags heraus, um sich zu sonnen.“
„Ä h … Ich bin noch ein bisschen hungrig, Tante. Vielleicht wäre ich im Gewöllorium besser untergebracht.“
„Im Gewölloriu m … h m …“ Tante Finny schien verdutzt. Es war noch nie vorgekommen, dass ein Eulenkind bei der Verteilung der Aufgaben um eine andere Arbeit bat. Sie musterte den Schleiereulenjungen. Er war tatsächlich ein bisschen grün um den Schnabel. Und wenn er sich als Grillenjäger nicht bewährte, bekam sie als seine Betreuerin Ärger. Außerdem fühlte er sich ihr vielleicht verpflichtet, wenn sie ihm seinen Wunsch erfüllte, und das konnte von Vorteil sein. Es war immer
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