Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
ganze Zeit Tausende marschierender Krallen über den Felsboden klacken. Soren ging zwischen Hortense und einem jungen Uhu, dessen Namen er bei dem ununterbrochenen Gebrabbel nicht verstehen konnte. Vor Soren marschierten drei Schnee-Eulen-Kinder.
Jede Gruppe bestand aus etwa zwanzig jungen Eulen und bildete lose Reihen. Alle Reihen marschierten im Gleichschritt, wobei jedes Eulenkind pausenlos seinen Namen aufsagte. Es war unmöglich, einzelne Namen herauszuhören, und schon in der vierten Runde kam Soren sein eigener Name reichlich sonderbar vor. Bald klang der Name gar nicht mehr wie ein Name, sondern wie eine belanglose Lautfolge. Und auch Soren selbst wurde belanglos, ein Wesen ohne vernünftigen Namen, ohne Eltern, ohne Geschwister, abe r … vielleich t … mit einer Freundin?
Schließlich durften sie wieder anhalten. Als das Gebrabbel schlagartig verstummte, begriff Soren plötzlich, was hier vor sich ging. Mit einem Mal passte alles zusammen, vor allem, wenn man bedachte, was ihm Gylfie über die Mondwirrnis erzählt hatte. Dieser Geistesblitz genügte, um Soren so lange wach zu halten, bis er das nächste Mal unter dem Felsbogen mit der Elfenkäuzin zusammentraf.
„Die machen uns mit unseren Namen mondwirr, Gylfie!“, teilte er dem Eulenmädchen aufgeregt mit, als sie wieder nebeneinanderstanden. Hier unter dem Fels waren sie vor dem Mondschein geschützt, nur die Sterne funkelten über ihnen. Gylfie begriff sofort, was er meinte. Wenn man einen Namen unzählige Male wiederholte, verlor er irgendwann seine Bedeutung, seine Einzigartigkeit. Der Name löste sich einfach auf.
Soren fuhr fort: „Darum beweg von jetzt an nur noch stumm den Schnabel oder wiederhol meinetwegen deine Nummer, aber sprich deinen Namen nicht mehr aus! Auf diese Weise kannst du ihn behalten.“ Trotzdem würden sie dem vollen Schein noch mindestens drei Nächte ausgeliefert sein, und auch danach würde es eine ganze Weile dauern, bis der Mond ganz geschwunden war.
Gylfie betrachtete Soren erstaunt. Dieser gewöhnliche Schleiereulenjunge war auf seine Art ausgesprochen ungewöhnlich! Was er da herausgefunden hatte, war geradezu genial. Das spornte wiederum Gylfie noch mehr an herauszufinden, wie man beim vollen Schein unbeschadet schlafen konnte.
Zwei Eulen, ein Gedanke
Als Soren und Gylfie sich am Ende dieser langen Nacht trennen mussten, wechselten sie einen beklommenen Blinzelblick. Wenn sie doch nur in derselben Gruppe wäre n – dann könnten sie sich austauschen, gemeinsam überlegen und Pläne schmieden! Gylfie hatte Soren einiges über ihre Gruppe erzählt. Auch ihr Betreuer schien recht nett zu sein, zumindest wenn man ihn mit Jatt, Jutt oder Skench verglich. Er hieß Onk, eine Abkürzung von „Onkel“. Wie Tante Finny hielt auch er ab und zu für Gylfie einen Leckerbissen bereit, einen Brocken Schlangenfleisch zum Beispiel, und sprach sie oftmals mit ihrem richtigen Namen an statt mit ihrer Nummer, die 25-2 lautete. Ja, als Gylfie Soren schilderte, wie ihr Betreuer sie aufgefordert hatte, ihn „Onk“ zu nennen, erinnerte ihn das sehr an Finny, als sie darauf bestanden hatte, „Tante“ gerufen zu werden.
„Das war schon merkwürdig“, hatte Gylfie erzählt. „Erst habe ich ihn mit ‚Herr Betreuer‘ angesprochen, und da hat er gesagt: ‚ Herr Betreuer! Wie schrecklich förmlich! Hast du schon wieder vergessen, wie du mich nennen sollst? ‘ – ‚ Onkel ‘, habe ich gesagt, und da hat er gemeint: ‚Na, n a … Ich habe dir doch schon meinen richtigen Namen verraten.‘“
Sein richtiger Name lautete anscheinend „Onk“. Während Gylfie erzählte, sah Soren regelrecht vor sich, wie sich der große Uhu so tief zu der kleinen Elfenkäuzin herunterbeugte, dass seine Federohren beinahe die Erde streiften.
„Die Gruppenbetreuer geben sich mächtig Mühe, nett zu uns zu sein“, hatte Soren gemeint. „Trotzdem ist das Ganze irgendwie unheimlich, oder?“
„Gruselig!“, hatte ihm Gylfie beigepflichtet. „Erst als ich ihn mit ,Onk‘ angeredet habe, hat er mir ein Stück Schlangenfleisch gegeben.“ Wehmütig fuhr sie fort: „Ach, ich erinnere mich noch so gut daran, wie wir meine Erste Schlange gefeiert haben. Papa hatte die Klappern für mich und meine Schwestern zum Spielen aufgehoben. Und weißt du was, Soren? Es kam mir vor, als könnte Onk Gedanken lesen! Ich denke eben an meine Feier, da sagt er: ‚Vielleicht habe ich dir ja sogar die Klappern aufgehoben, damit du etwas zum Spielen hast.‘
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