Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
nützlich, wenn einem das eine oder andere Eulenkind noch einen Gefallen schuldete. „Vielleicht hast du ja Recht“, sagte sie darum. Ihre gelben Augen musterten Soren scharf. „Denk aber daran, dass ich mich für dich eingesetzt habe, Liebchen, und vergiss auch nicht, dass ich dir erlaubt habe“, sie sprach leise und aus dem Schnabelwinkel, „tagsüber ein Schläfchen zu machen.“ Das mattgelbe Leuchten ihrer Augen wurde zu einem gleißenden, goldenen Glänzen. „Dann stell dich meinetwegen in die Reihe der Eulenkinder, die fürs Gewöllorium eingeteilt sind.“
„Ich bin Nummer 47-2. Ich weise euch in eure Arbeit im Gewöllorium ein. Kommt mit.“ Die junge Eule sprach eigenartig, ganz abgehackt, ausdruckslos und dumpf. Aber sie schnarrte nicht so unerträglich wie Jatt und Jutt. Soren hatte noch keine Eule so sprechen gehört.
Soren und Gylfie folgten 47-2, die vor ihnen herstapfte. Klack-klack: Die Krallen der Eulenkinder bewegten sich schon bald wieder im Gleichschritt. Der dumpfe, leiernde Tonfall von 47-2 sprang auf die schier endlosen Reihen marschierender Eulenkinder über, als sie nun ein Lied anstimmten:
Jedes Gewölle kann was berichten,
Jedes erzählt uns viele Geschichten,
Wir müssen nur den Inhalt sichten.
Fell und Zähne und lose Gebeine
Und dazu noch ein, zwei Stein e –
Jedes Gewölle kann was berichten.
Es zu zerlegen, das macht uns Freude,
Wir trennen Knochen, Sehnen, Häute,
Das ist unsre Passion.
Und entdecken wir beim Zupfen
Die heiß begehrten Tupfen,
So ist das unser Lohn.
Der Anblick, der Soren und Gylfie im Gewöllorium erwartete, traf sie wie ein Schlag. Sie waren in einer auf drei Seiten abgeschlossenen Schlucht. Auf langen Felssimsen hockten Hunderte von Eulen, die mit zahllosen ausgewürgten Gewöllen beschäftigt waren. Hoch und nieder ruckten ihre Köpfe, als sie die Bällchen mit den Schnäbeln auseinanderzupften. Hätten Gylfie oder Soren das Wort „Hölle“ gekannt, hätten sie sicherlich begriffen, dass es sich hier um den schlimmsten Winkel jenes unerfreulichen Ortes handeln musste. Aber die beiden Eulenkinder hatten in ihrem jungen Leben noch nie einen Ort gesehen, der mit dem Gewöllorium zu vergleichen war. Bis zu ihrer Entführung hätte man ihre Welt als das reinste Paradies beschreiben können. Sie hatten oben in einem mächtigen Baum oder einem hohen Kaktus gewohnt und sich in die weichen Flaumfedern ihrer Eltern gekuschelt. Mehrmals am Tag hatten die Eltern ihnen schmackhafte Insekten in die hungrigen Schnäbel gestopft, bis sie schließlich die ersten saftigen Fleischbrocken kosten durften. Zwischen den Mahlzeiten hatten ihnen die Eltern verheißungsvolle Geschichten erzählt: vom Fliegen, vom Flugunterricht, von dem Gefühl im Magen, das einem sagte, wie man sich vom Wind tragen lassen musste.
Nummer 47-2 trat vor die Neuankömmlinge hin und hielt ihnen mit ausdrucksloser Stimme eine kleine Ansprache. „Ich bin eine Zupferin dritter Klasse. Ich hole die größeren Bestandteile aus den Gewölle n – überwiegend Kieselsteine, Knochen und Zähne. Zupfer zweiter Klasse sind für Fell und Federn zuständig, Zupfer erster Klasse für Tupfen. Das hier ist ein Tupf.“ 47-2 wies mit dem Schnabel auf einen winzigen hellen Fleck, der in einem Gewölle vor ihr blinkte. „Ein Tupf ist eine Art Metall.“ Sie machte eine Pause. „Oder etwas Ähnliches“, setzte sie hinzu. „Das spielt für euch aber keine Rolle. Merkt euch einfach gut, dass Tupfen äußerst wertvoll sind, noch wertvoller als Gold. Tupf-Zupfer zu werden ist der höchste Rang, den man im Gewöllorium erreichen kann. Morgen werde ich übrigens zur Zupferin zweiter Klasse befördert. Darum ist es auch meine Aufgabe, euch einzuweisen, weil ich von allen Zupfern dritter Klasse die beste bin.“ Die junge Eule blinzelte und summte wieder das grässliche Lied.
„Als Anfänger benutzt ihr zum Zupfen am besten den Schnabel. Mit den Krallen könnt ihr das Gewölle festhalten. Alles, was ihr herauszupft, legt ihr schön ordentlich in eine Reihe neben euch auf das Felssims, euren Arbeitsplatz. Wer seine Funde nicht ordentlich in eine Reihe legt, verstößt gegen eine der wichtigsten Vorschriften und wird streng bestraft, wie ihr bei unseren Lachbehandlungen noch erleben werdet.“
Soren und Gylfie wechselten einen befremdeten Blick. Was war denn eine Lachbehandlung?
„Wenn ihr eure Arbeit jedoch gewissenhaft erledigt, werdet auch ihr vielleicht eines Tages befördert.“ 47-2 trat auf das mit
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