Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
Gewöllen übersäte Felssims und ergriff eines davon mit den Krallen. „Fangt an. Die eigenen Gewölle zu zerzupfen ist übrigens streng verboten.“ 47-2 warf Soren einen warnenden Blick zu, dann senkte sie den gesprenkelten Kopf und machte sich an die Arbeit.
Soren spürte einen Würgreiz und spie das zweite Gewölle seines Lebens aus.
Soren und Gylfie schien es, als wollte die Zeit nicht vergehen. In gewissen Abständen stieß ein Eulenaufseher ein leises Pfeifsignal aus. Dann wurde wieder ein Loblied auf die Gewölle angestimmt, und zwar im gleichen leiernden Tonfall, in dem 47-2 zu sprechen pflegte. Soren kam es allerdings vor, als ob die Lieder vor allem dazu dienten, ihrer Arbeit einen Takt vorzugeben. Die Worte waren im Grunde bedeutungslos, wie auch die Nummern, die man ihnen verpasst hatte, keine Bedeutung hatten.
In den Pausen zwischen den Liedern blieb es aber nicht völlig still. Immer wieder erklangen Kommandos wie: „Abschnitt 1 0 B braucht neue Gewölle“ oder „Abschnitt 2 0 C: Zügiger zupfen!“ Auch unterhielten sich manche Eulen bei der Arbeit, doch je länger Soren und Gylfie zuhörten, desto unverständlicher kamen ihnen diese Gespräche vor.
Auf einmal begann auch das Eulenkind neben Soren zu sprechen. „12-1. Mir geht es heute Morgen prächtig. Ich habe eben meine erste Lieferung Gewölle zerzupft. Dir geht es bestimmt auch prächtig, wenn du deine erste Lieferung zerzupft hast. Wenn man eine Lieferung fertig hat, ist man so zufrieden und glücklich wie selten. Jeden Morgen um diese Zeit bin ich so zufrieden und glücklich wie selten.“
Selten? , dachte Soren. Dieses Wort kannte er, denn seine Eltern hatten ihm erklärt, dass die Gattung der Schleiereulen, Tyto alba, der sie angehörten, selten geworden war. Das hieß, dass es nicht viele Schleiereulen gab. Wie konnte dieses Eulenkind behaupten, es sei so zufrieden wie selten, wenn es doch angeblich jeden Morgen um dieselbe Zeit so zufrieden war?
„Mir geht es auch prächtig“, sagte ein anderes Eulenkind zu Gylfie. Anschließend hielt es fast dieselbe kleine Rede wie der erste Jungvogel.
In regelmäßigen Abständen wandten sich die beiden fremden Eulenkinder an Soren und Gylfie und schilderten, wie überaus wohl sie sich gerade fühlten. Dann gingen sie dazu über, Lob in ihre Schilderungen einzuflechten, wie zum Beispiel: „25-2, für eine so außerordentlich zierliche Eule, wie du es bist, zupfst du in vorbildlicher Haltung.“
„Danke schön.“ Gylfie neigte höflich den Kopf.
„Gern geschehen, 25-2.“
Dann begann das Eulenkind neben Soren: „12-1, deine Schnabeltechnik ist bereits äußerst ausgereift. Du stellst dich wirklich sehr geschickt an.“
„Danke“, sagte Soren und fühlte sich aus unerfindlichen Gründen veranlasst hinzuzusetzen: „Vielen Dank.“
„Gern geschehen. Aber du brauchst dich nicht für das Lob zu bedanken. Bedanken ist Kraftverschwendung. Loben zu dürfen ist an sich schon eine Belohnun g – so wie ein Tupf.“
„Was ist das eigentlich, ein Tupf?“ Die Frage war heraus, ehe sich Soren auf die Zunge beißen konnte, aber schließlich handelten viele der Gewölle-Lieder von Tupfen und Soren begriff einfach nicht, was in aller Welt es damit auf sich hatte. Dass man in den Gewöllen Federn, Knochen und Zähne entdeckte, war klar, aber die Tupfen blieben ihm ein Rätsel. Die beiden fremden Eulenkinder, die vorher so ausdruckslos gesprochen hatten, stießen unvermittelt laute Schreie aus: „Fragenalarm! Fragenalarm!“ Daraufhin kamen zwei grimmige Eulen mit dunklem Gefieder und rotbraunen Federohren über den gelb funkelnden Augen angeflogen und packten Soren.
„Spinnst du, Soren?“, hätte Gylfie beinahe ausgerufen, konnte die Frage aber rechtzeitig unterdrücken.
Sorens Magen zog sich zusammen, als sich die beiden Eulen jetzt mit ihm in die Lüfte schwangen. Hilflos baumelte er zwischen ihnen.
Jede Eule hielt einen seiner Flügel in den Fängen und es kam ihm vor, als würde er entzweigerissen. Es tat scheußlich weh. Und als sie höher flogen, spürte Soren unter seinen Flügeln nicht die eingefangene Luft, von der sein Vater immer gesprochen hatte, sondern ein unangenehmes Brausen, das gegen seine Flügelunterseiten trommelte.
„Die anderen lachen dich aus, 12-1. Sie lachen so laut, dass die Luft aufgewühlt wird!“, verkündete sein einer Peiniger.
„Tja, 12-1“, ergriff der andere das Wort, „du bist heute der Erste, der eine Lachbehandlung bekommt.“
Soren biss
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