Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
belauscht. Außerdem gibt es da oben ganz viele brütende Eulenmännchen.“
„Wo oben?“
„Na, da oben. Ich glaube nämlich, die Brüterei befindet sich noch weiter oben als die Bibliothek. Ich glaube, sie liegt dicht unter dem Himmel. Ich glaub e …“, Gylfie machte eine Kunstpause, um die Wirkung ihrer Worte zu steigern, „ … ich glaube, von dort aus kann man wegfliegen.“
Sorens Magen schlingerte. „Einverstanden!“
„Bist ’n echter Kumpel!“ Gylfie verpasste Soren einen freundschaftlichen Knuff, auch wenn sie sich dafür tüchtig recken musste. Aber ihn zu knuffen hatte so etwas Männliches, und sie wollte Soren damit klarmachen, dass er trotz seiner Tätigkeit als Glucke ein echtes Eulenmännchen war und blieb. „Und ich werde mich mal drum bemühen, zur Polsterin befördert zu werden.“
In der Brüterei
Es war Sorens zweite Nacht in der Brüterei. In seiner Schicht arbeiteten noch drei andere Schleiereulen, von denen eine ebenfalls ein Männchen war. Wenn Soren Nachtschicht hatte, brauchte er nicht im Glaucidium anzutreten. Die Arbeit war auch nicht ganz so entwürdigend, wie er befürchtet hatte. Vor allem wurde man pausenlos gefüttert: Die Glucken sollten bei Kräften bleiben. Immerzu kam jemand vorbei und fragte schmeichelnd: „Wie wär’s mit einem schönen dicken Wurm, frisch aus Tyto eingeflogen? “ – „Ein Stück Schlange gefällig? “ – „Eine Wühlmaus? “ – „Ein Brocken Eichhörnchen?“. An der Verpflegung gab es in der Brüterei wahrhaftig nichts auszusetzen.
Gylfie war es gelungen, sich in die Moospolsterei versetzen zu lassen. Hatten sie gleichzeitig Schicht, fanden sie reichlich Gelegenheit, sich zu unterhalten, weil Gylfie dann Sorens Nest besonders oft aufsuchte, um es mit frischem Moos und plustrigem Flaum bequem auszupolstern.
In Sorens Nest lagen vier Eier, was ihm ziemlich viel vorkam. Er glaubte sich zu erinnern, dass Schleiereulen eher zwei oder drei Eier legten. Während er in der zweiten Nacht über die Vorteile seiner Lage nachdachte, verkündete auf einmal die Schleiereule im Nachbarnest im dumpfen Tonfall der Mondwirren: „Knacksalarm! Knacksalarm! Eischwiele in Sicht.“
Sogleich kamen zwei Streifenkäuzinnen angeflattert. Soren spürte vor Aufregung einen Stich im Magen und beugte sich gespannt über seinen Nestrand. Das Ei im Nachbarnest kullerte schon hin und her wie damals bei Eglantin e – wie ewig das schon her war!
Außer ihm schien allerdings niemand aufgeregt zu sein. Niemand jubelte: „Es kommt! Es kommt!“
Das Ei schaukelte immer heftiger. Soren sah die helle schimmernde Eischwiele aus dem Loch in der Schale ragen.
Die eine Streifenkäuzin sagte gleichgültig: „Eischwiele hin oder he r – wir brechen die Schale jetzt auf.“
Beide Streifenkäuzinnen versetzten dem Ei kräftige Krallenhiebe. Die Schale splitterte. Eine Streifenkäuzin drehte die Schale um, die andere hakte die Kralle in den glitschigen weißen Klumpen und holte ihn heraus. „Hoppla!“, sagte die Käuzin knapp und ließ das verklebte Küken einfach in das Nest fallen.
Soren war so entsetzt, dass es ihm den Atem verschlug.
Niemand rief freudig aus: „Ein Mädchen!“ Niemand sagte: „Ist sie nicht süß!“ oder „Hinreißend!„
Es sagte überhaupt niemand etwas außer: „Nummer 401-2.“
Die andere Streifenkäuzin nickte bestätigend. „Demnach sind wir bei den Schleiereulen über die Vierhundert.“
„Reife Leistung“, meinte die andere, die eben dem frisch geschlüpften Eulenküken seine Nummer verpasst hatte.
Soren packte die Wut. Leistung! So etwas Abstoßendes hatte er noch nie erlebt. Sein Magen verströmte eine Kälte, die sich bis in seine neuen Schwanzfedern, bis in seine Krallen und Flügelspitzen auszubreiten schien.
Fast wäre es ihm lieber gewesen, das Eulenküken wäre nie geschlüpft, als dass es sein Leben im Sankt Äggie fristen musste. Sie mussten hier weg! Gylfie und er mussten endlich fliegen lernen.
Wo blieb Gylfie eigentlich? Sie arbeitete doch in derselben Schicht. Schade, dass sie das Ganze nicht miterlebt hatte. Er reckte den Hals und schaute sich um, aber leider war die zierliche Elfenkäuzin nirgends zu entdecken.
Es war die stillste Stunde der mondlosen Nacht und Gylfie war in ihrer Pause in einen breiten Felsspalt geschlüpft, ein ideales Versteck für eine Elfenkäuzin. Sie beobachtete Hortense. Hortense hatte sich als so begabte Glucke erwiesen, dass man ihr ein besonders geräumiges Nest auf einem
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