Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
ich hergekommen bin. Ich wurde nicht entführt. Ich bin freiwillig hier.“
Soren und Gylfie waren baff. „Freiwillig?“
„Wie gesagt, das ist eine lange Geschichte.“
„Ich hab grad Pause“, sagte Soren.
„Und bei uns sind die Aufseher knapp. Es fällt nicht auf, wenn ich länger wegbleibe“, setzte Gylfie hinzu.
„Also, erstens bin ich viel älter, als ich aussehe. Ich bin schon ausgewachsen.“
„Wie bitte?“, entfuhr es Soren und Gylfie.
„Doch, ich bin schon vor vier Jahren geschlüpft.“
„Vor vier Jahren!“ Soren konnte es immer noch nicht glauben.
„Bei mir haben die Tupfen bewirkt, dass ich immer die Kleinste war, klein wie ein Jungvogel, und ich wachse auch nicht mehr. Federn habe ich erst spät bekommen, und ich habe mein Möglichstes getan zu verhindern, dass ich welche kriege.“
Hortense stocherte kurz in ihrem Nest herum, und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine wunderschöne, braun-weiß gesprenkelte Fleckenkauz-Feder im Schnabel.
„Bist du in der Mauser?“, erkundigte sich Soren. Er selbst hatte sich schon einmal gemausert, als ihm die Eidunen ausgefallen waren. Sie hatten eine Erste-Mauser -Feier abgehalten und seine Mutter hatte die ausgefallenen Kükendunen aufbewahrt.
„Nein. Ich rupfe mir die Federn aus.“
„Du rupfst dir selber die Federn aus?!“ Soren und Gylfie trauten ihren Ohren nicht.
Hortense lachte. Das melodische Tschurr einer lachenden Fleckenkäuzin konnte unmöglich von einer Mondwirren kommen. „Ich bin schließlich SNF.“ Sie zwinkerte den beiden zu.
„Soll Nicht Fliegen“, sagte Soren leise.
„Ja, wegen meiner streng geheimen Tätigkeit, aber auch, weil mein Gefieder so spät sprießt. Die Natur hat mich dazu bestimmt.“
„Wozu?“, fragte Gylfie.
„Hier herzukommen. Herauszufinden, was hier vorgeht. Bei uns im Wald von Ambala gab es gewaltige Verluste unter den Eulen, weil uns die Häscher des Sankt Äggie regelmäßig heimsuchten und dies noch immer tun. Eulenküken und Eier verschwinden massenweise. Wir mussten etwas unternehmen. Was natürlich bedeutete, dass sich jemand zur Verfügung stellen und notfalls auch Opfer bringen musste. Eines unserer tapfersten Eulenmännchen ist einem Häschertrupp gefolgt und hat die Schluchtenlandschaft hier entdeckt. Cedric, so hieß er, hat seine Frau überredet, ein Ei aus ihrem Gelege zu opfern, damit er sich den Dieben unerkannt anschließen konnte.
Auch ich stellte mich zur Verfügung. Mir war ohnehin klar, dass ich wegen meiner Federn nie ein normales Eulenleben führen würde. Als mir nämlich irgendwann Federn sprossen, stimmte etwas damit nicht. Meine Federn haben keine Spannung, keine Tragkraft. Ich kann nur die allerkürzesten Strecken fliegen. Wer würde mich schon zur Gefährtin erwählen? Was für eine Mutter würde ich abgeben, die ihren Küken nicht einmal das Fliegen beibringen kann? Ich bin zur Einzelgängerin bestimmt, würde später zu den Unglücklichen gehören, die von ihren Verwandten abhängig sind und denen nur die unterste, wurmstichigste Höhle im Baum zusteht. Meine Eltern haben mich oft zu solchen Verwandtenbesuchen gezwungen und ich wollte auf keinen Fall so ein bedauernswertes Geschöpf werden. Dieses Leben kam für mich nicht infrage! Ich wollte mich in den Dienst einer guten Sache stellen. Darum erklärte ich mich freiwillig dazu bereit, als Spionin in das Sankt Äggie einzudringen und mit aller Kraft zu verhindern, dass Skench, Spoorn und die übrigen Bösewichte ihr niederes Ziel erreichen. Sie wollen nämlich alle Eulenvölker der Welt unterwerfen. Aber das habt ihr wahrscheinlich schon selbst herausbekommen.“
Soren und Gylfie nickten stumm.
„Die Eier gehören zu ihrem Plan. Ich tue, was ich kann. Seit ich hier bin, konnte ich schon zwanzig Eier retten. Die Weißkopf-Seeadler sind Verbündete der Eulen von Ambala. Adler finden sich in dieser Felslandschaft am besten zurecht, weil Felsspalten und -vorsprünge ihre bevorzugten Nistplätze sind. Obendrein ist der Adler der einzige Vogel, vor dem sich die abgebrühten Eulen des Sankt Äggie fürchten. Die Narbe auf Skenchs Flügel stammt von Adlerklauen.“
„Aber wie bist du überhaupt hergekommen, wenn du doch nur kurze Strecken fliegen kannst?“, wollte Soren wissen.
„Per Überlandbeförderung“, erwiderte Hortense kurz angebunden.
„Überlandbeförderung?“, wiederholten Soren und Gylfie fragend.
„Ich habe einen Tag abgewartet, an dem der Himmel dicht bewölkt war. Bis dahin
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