Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
Felsvorsprung in einiger Entfernung zu den anderen Glucken zugestanden hatte. Dort hatte sie mehr Platz. Sie beherrschte die Kunst, mehrere Eier gleichzeitig zu bebrüten, inzwischen perfekt. In Gylfies Abschnitt der Brüterei war gerade Schichtwechsel, so bald würde kein Polsterer vorbeikommen.
Gerade eben tat die Fleckenkäuzin, die für eine Jungeule ihres Alters ziemlich groß war, etwas äußerst Merkwürdiges. Sie hatte ihr Nest verlassen, und es sah so aus, als wollte sie eins ihrer Eier herausrollen. Gylfie blinzelte ungläubig. Beinahe wäre ihr ein Schreckenslaut entfahren, als 12-8 das Ei nun behutsam an den Rand des Felsvorsprungs rollte. Dann erschien in der kohlrabenschwarzen Nacht auf einmal ein strahlend weißer Flec k – ein Fleck wie ein kleiner, weißer Mond, ein kleiner, gefiederter Mond!
Gylfie riss die Augen auf. Es war das Haupt eines Weißkopf-Seeadlers. Gylfie kannte diese Vögel aus ihrer Wüstenheimat. Dieser hier war riesengroß, seine Flügelspannweite war gewaltig. Er landete lautlos auf dem Felsvorsprung und nahm das Ei in die Fänge. Dabei wechselte er kein Wort mit der Fleckenkäuzin. Gylfie hörte sie nur leise seufzen, als 12-8 wieder auf ihrem Gelege Platz nahm.
Gylfie und Soren trafen sich erst am frühen Morgen wieder, als sie Schichtende hatten. Beide waren so begierig, von ihren neuesten Erlebnissen zu berichten, dass sie einander dauernd ins Wort fielen. Schließlich setzte Gylfie sich durch und zischelte: „12-8 tarnt sich bloß!“
„Wie bitte?“ Soren blieb der Schnabel offen stehen. Verglichen damit schien seine Schauergeschichte über das schlüpfende Schleiereulen-Küken harmlos.
„Sie ist eine Spionin“, verkündete Gylfie kehlig.
„Halt mal. Meinen wir dieselbe Eule? Hortense? Nummer 12-8?“
„Die ist genauso wenig Nummer 12-8, wie ich Nummer 25-2 bin und d u … Wie lautet noch mal deine Nummer? Ich kann sie einfach nicht behalten.“
„12-1“, sagte Soren und setzte hastig hinzu: „Achtun g … Sie kommt!“
Hortense blieb vor ihnen stehen. „Nummer 12-1, ich habe gehört, dass du deine Sache als Glucke sehr gut machst. Es gibt ja auch kaum eine befriedigendere Tätigkeit. Jedes Ei, das ich ausbrüte, erfüllt mich mit bescheidener Zufriedenheit.“
„Danke schön, 12-8“, gab Soren verdattert zurück.
Die Fleckenkäuzin wandte sich an Gylfie: „Und du sollst eine ausgezeichnete Polsterin sein. Vielleicht wirst du ja irgendwann auch zur Glucke beförder t – für die ganz kleinen Eier. Bestimmt wirst auch du diese Tätigkeit außerordentlich befriedigend finden.“
Gylfie nickte stumm.
Wie die sich verstellen konnte!
Die folgenden beiden Nächte diskutierten Soren und Gylfie darüber, wie sie Hortense auf ihr Verhalten ansprechen sollten.
„Ich bin dafür, dass wir abwarten, bis sie allein ist. Dann gehen wir hin und sagen einfach: ,Hortense, uns ist zu Ohren gekomme n …‘“
„Was soll das heißen: ‚uns ist zu Ohren gekommen‘? Du ganz allein hast sie bespitzelt, Gylfie. Wenn du mit ‚uns ist zu Ohren gekommen‘ anfängst, verschreckst du sie womöglich, weil sie denkt, noch mehr Eulen haben sie beobachtet.“
„Stimmt auch wieder.“
„Warum wollen wir sie überhaupt darauf ansprechen?“
„Warum? Stell dir doch mal vor, sie wäre nicht die Einzige! Stell dir vor, im Sankt Äggie gäbe es zwanzig Hortense s … ein geheimes Netzwerk aufmüpfiger, nicht mondwirrer Eulen, die womöglich sogar eine Meuterei planen!“
„Was ist eine Meuterei?“, fragte Soren.
Gylfie blinzelte. „Eine Meuterei ist eine Art Krieg, bei dem die Gegner nicht ebenbürtig sind. Stell dir einfach vor, dass die guten Kleinen gegen die bösen Großen kämpfen.“
„Aha.“
„Hör zu, wir müssen uns mit Hortense anfreunden, richtig anfreunden. Ihr Nest liegt am höchsten Punkt des Sankt Äggie. Von dort aus können wir fliehen.“ Gylfie unterbrach sich und stellte sich unter Sorens Schnabel. „Schau mich an, Soren!“
„Was ist denn?“
„Wir müssen fliegen lernen, Soren. Jetzt gleich!“
Hortenses Geschichte
Doch vorher mussten sie mit Hortense sprechen. Das Problem dabei war nicht, den richtigen Augenblick, sondern die passenden Worte zu finden. Der richtige Augenblick war bald gekommen.
Am nächsten Abend gelang es Soren und Gylfie, ihre Arbeitspläne so abzustimmen, dass Soren Pause hatte, während Gylfie noch in der Polsterei Dienst tat. Soren bat um Erlaubnis, seiner Freundin bei der Moosauslieferung helfen zu dürfen.
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