Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung
bisschen größer als Mama? Aber die Stimme klang genaus o …
„Komm doch herein, Herzchen!“
Eglantine blinzelte verwirrt. „Warum nennst du mich auf einmal ‚Herzchen‘?“
Die wunderschöne Eule wirkte einen Augenblick lang verunsichert, dann erwiderte sie: „Ac h – es ist so lange he r … Aber ich habe nicht vergessen, dass Tausendfüßer deine Leibspeise sind! Schau mal, was neben deinem Nest liegt.“
Sie trat zur Seite. In dem Nest lagen gar keine Eier. Es war genauso hergerichtet wie früher: eine Schicht Moos, darauf eine Schicht Dunen aus Mamas Brustgefieder, Moos, Dunen, Moos, Dune n – und daneben lag ein kleiner Berg Tausendfüßer.
„Mama!“ Eglantine warf sich dem Eulenweibchen in die ausgebreiteten Flügel.
Ihre Mutter drückte die heimgekehrte Tochter fest an sich, ergriff mit dem Fuß einen Tausendfüßer und fing zu singen an, aber mit seltsam quäkender Stimme. Sie sang das alte Lied aus Eglantines frühesten Kindertagen.
Was krabbelt mir im Hals,
Was kitzelt mich im Rachen?
Fast spuck ich’s wieder aus,
So bringt es mich zum Lachen.
So viele hundert Beine
Mit kleinen Füßen dra n –
Wenn ich die nur seh,
Fang ich zu jubeln an!
Der Tausendfüßer ist’s,
Den ich besinge,
Mein Lieblingsleckerbissen,
Dem ich Verehrung bringe.
Knackige Käfer, saftige Spinnen,
Die lass ich alle liegen,
Kann ich nur einen leck’ren
Tausendfüßer kriegen!
Eglantine sagte erstaunt: „Du kennst das Lied noch, Mama?“
„Selbstverständlich, Herz…, äh, Schätzchen. Soren hat es dir doch oft genug vorgesungen.“
„Das stimmt.“ Eglantine machte sich behutsam los, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihre Mutter. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.
„Du hast so ein großes, weißes Gesicht, Mama.“
„Nun ja, wir haben uns alle verändert, Schatz.“
‚Schatz‘ hat mich Mama oft genannt, allerdings meistens ‚Tinchen-Schatz ‘ – und niemals ‚Herzchen‘. Doch die Erklärung ihrer Mutter beruhigte Eglantine, auch wenn ein leiser Zweifel blieb.
„Und was hast du für eine Narbe im Gesicht?“
„Das ist nur ein Kratzer, Schatz. Bei einem Sturm ist mir ein abgebrochener Ast ins Gesicht geflogen.“
„Wo ist eigentlich Papa?“
„Der ist mit Kludd und Soren auf der Jagd.“
„Das kann nicht sein.“
„Wieso denn nicht?“
„Weil Soren im Großen Ga’Hoole-Baum ist.“
„So ein Unsinn, Eglantine. Den Großen Ga’Hoole-Baum gibt es nicht.“
„Doch!“
„Der Große Ga’Hoole-Baum ist eine Legende, Schätzchen. Wenn Papa zurückkommt, erzählt er euch wie früher vor dem Einschlafen wieder lauter schöne Geschichten darüber.“
„So lange kann ich nicht hierbleiben. Sonst werde ich als vermisst gemeldet.“
„Wer könnte dich sehnlicher vermissen als ich, deine Mutter?“
Eglantine wusste nicht mehr, was sie von alldem halten sollte. Sie drehte sich Hilfe suchend nach Ginger um. „Ich habe diesmal eine Freundin mitgebrach t – wo ist sie denn?“
„Außer dir ist hier niemand, Herzchen.“
„Doc h – Ginger hat mich begleitet. Ich habe ihr versprochen, dass sie bei uns wohnen kann. Sie hat keine Eltern mehr.“
„Wie traurig.“ Eglantines Mutter seufzte schwer. „Natürlich kann deine Freundin bei uns wohnen, Herz…, äh, Schätzchen. Hier ist genug Platz.“
„Ich hab gewusst, dass du einverstanden bist, Mama. Das habe ich Ginger gleich gesagt.“ Beim Sprechen musterte Eglantine ihre Mutter wieder prüfend, als müsste sie einen letzten Rest Argwohn vertreiben. „Aber wo ist sie bloß hin?“
„Vielleicht wollte deine Freundin uns beide erst einmal allein lassen. Wir haben uns so lange nicht gesehen.“
„Das stimmt“, sagte Eglantine leise.
„Jetzt kann ich dich endlich richtig verwöhne n – mit Tausendfüßern und dicken Mäusen und frischem Maulwurf.“
„Lecker!“ Eglantine merkte plötzlich, dass sie schrecklichen Hunger hatte.
Eglantine fraß sich satt. Danach war sie plötzlich todmüde. Gähnend überlegte sie noch einmal, wo Ginger wohl steckte, dann sank sie in das Nest, das ihre Mutter so liebevoll hergerichtet hatte. „Aber weck mich bald wieder, Mama“, sagte sie schläfrig. „Ich darf nicht zu spät in den Baum zurückkommen. Ich weiß, für dich ist der Baum nur eine Legende, aber für mich nicht.“
„Keine Sorge, Herzchen. Ich nehme den Baum durchaus ernst.“ Eglantine hatte eben die Augen geschlossen, da fiel ein gleißender Lichtstrahl durch den Höhleneingang.
Auf einem Ast vor der
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