Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung
das nächste Wiedersehen mit ihrer Mutter.
Nacht für Nacht verließen Eglantine und Ginger heimlich den Baum. Nach jedem Besuch bei ihrer Mutter konnte sich Eglantine seltsamerweise nicht an den Rückflug erinnern und auch nicht daran, dass Ginger zusammen mit ihr in der Höhle ihrer Mama gewesen war. Ihr Vater war noch nicht wieder aufgetaucht. Doch das störte Eglantine alles nicht. Sie hatte sich auch daran gewöhnt, dass ihre Mutter sie manchmal „Herzchen“ nannte. Sie vergaß alle ihre Zweifel, so wie sie auch vergaß, Soren von ihren Erlebnissen zu erzählen und Primel einen Krankenbesuch abzustatten. Kaum näherte sie sich der Baumhöhle in den Schnabelbergen, war alles andere wie weggeblasen.
Mama war ungeheuer stolz auf ihre große Tochter, die so schön lesen und schreiben konnte. Sie hob jedes Zettelchen von Eglantine auf, lobte ihre Schrift und erkundigte sich eingehend nach Eglantines Lesestoff.
„Das Buch, das ich gerade lese, handelt von Tupfen und davon, wie man mithilfe von Tupfen noch mehr Tupfen gewinnen kann.“
Dieses Thema fesselte Mama offenbar besonders, denn sie sagte: „Das klingt ja hochinteressant, Herzchen! Kannst du mir das nicht abschreiben?“
„Ich weiß nich t … es ist ein sehr dickes Buch mit viel Text und komplizierten Abbildungen.“
„Reiß doch einfach ein paar Seiten heraus, Herzchen. Das merkt doch keiner.“
In Eglantines Hinterkopf rührte sich etwas und sie spürte einen leisen Stich im Mage n – oder war das nur Einbildung? Sie sagte: „Ist gut. Ich bring dir die Seiten nächstes Mal mit.“
Primels letzter Gedanke
„Ich war zwei Wochen lang in der Krankenstube, und du hast mich kein einziges Mal besucht, Eglantine“, sagte Primel betrübt.
„Tut mir leid. Ic h … ich hab’s vergessen.“ Aber Eglantine sah nicht aus, als ob es ihr leidtäte. Primel erkannte ihre Freundin kaum wieder. Eglantines sonst so wache schwarze Augen blickten seltsam verhangen. Jetzt setzte sie hinzu: „Weißt du, ich war sehr beschäftigt.“
„Nein, das weiß ich nicht. Woher auch? Du hast mich ja nie besucht und mir davon erzählt!“
„Aber so war’s. Das kannst du mir ruhig glauben.“
Bei diesem letzten Satz grummelte Primels Magen, und sie merkte, dass sie Eglantine nicht glaubte. Sie glaubte ihr kein Wort. Wie kam es, dass sich ihre Freundin so verändert hatte? Es ging Primel nicht mehr darum, dass sie sich ausgeschlossen fühlt e – sie hatte eher Zweifel, ob sie in das, was Eglantine trieb, einbezogen werden wollte. Aber sie war fest entschlossen herauszufinden, was da vor sich ging. Und wenn sie es herausgefunden hatte, würde sie Soren darauf ansprechen. „Kann ich dich mal was fragen, Eglantine?“, sagte sie scheinbar beiläufig.
„Klar. Alles, was du willst.“
„Was ist eigentlich mit Ginger los?“
„Wie meinst du das?“
„Warum will sie dich immer für sich allein haben?“
„Für sich allein haben?“
„Ich habe den Eindruck, sie ist eifersüchtig auf deine anderen Freunde.“
„Eifersüchtig?“ Eglantines Blick war abwesend.
„Ja. Echte Freunde sind aber nicht eifersüchtig.“
„Echte Freunde?“
Es hatte keinen Zweck. Eglantine wiederholte die Fragen nur, sie ging überhaupt nicht darauf ein. Primel kam einfach nicht an ihre Freundin heran.
Nach dieser „Aussprache“ beschränkte sich Primel zwei Tage lang aufs Beobachten, doch nichts Verdächtiges geschah. Dann brach die goldene Zeit an, die Nächte wurden wieder länger, und Primel fiel auf, dass Eglantine in der Freiflug-Zeit nach dem Unterricht und den Brigadeübungen oft allein losflog.
Beim dritten Mal folgte Primel ihr. Es war eine mondlose Nacht und Wolken verdeckten die Sterne. Primel, die für eine Eule ziemlich geräuschvoll flog, war froh, dass ein böiger Wind ihre Flügelschläge übertönte. Zu ihrer großen Überraschung wählte Eglantine die weiteste Strecke über das Hoolemeer zum Festland, indem sie nach Süden flog. Dort lagen die berüchtigten Schnabelberge, vor denen man die jungen Eulen eindringlich gewarnt hatte. Vor allem Mr s Plithiver war überhaupt nicht gut auf die Schnabelberge zu sprechen. Immer wieder erzählte sie die Geschichte, wie die Viererbande auf ihrem Weg zum Baum dort einem verhängnisvollen Zauber erlegen war. Es sollte dort wunderschöne, aber lebensgefährliche Seen geben. Was wollte Eglantine denn in dieser verrufenen Gegend? Aber wenn ich in die Schnabelberge fliegen muss, um herauszubekommen, was mit meiner Freundin
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