Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung
gewirbelt, und im nächsten Augenblick waren sie von Reinen umringt gewesen. Und von was für einem „Heiligtum“ war da die Rede? Eglantine hatte keine Ahnung, aber viel wichtiger war jetzt, wie sie und Primel fliehen konnten. Primel benimmt sich merkwürdig. Was haben die Reinen mit ihr gemacht?
„Landebaum voraus!“
Eine mächtige Eiche zeichnete sich gegen den rötlich erleuchteten Nachthimmel ab. Das Feuer hatte sie gestreift und versengt, aber nicht in Brand gesteckt. In der Mitte des Stammes öffnete sich eine Höhle. Eglantine und Primel wurden unsanft hineingestoßen.
„Erst muss ich mich vergewissern, dass das Heiligtum unversehrt ist. Anschließend befasse ich mich mit dir!“ Nyra funkelte Eglantine Unheil verkündend an.
„Hier ist es, Herrin.“ Ein großer Schleiereulerich legte Nyra etwas zu Füßen. Das war doch ein ganz gewöhnliches Schleiereulen-Ei, wenngleich ein besonders großes. Eglantine begriff gar nichts mehr. Doch die umstehenden Reinen knickten in den Knien ein und senkten die Köpfe.
„Verneigt euch!“, befahl Nyra den beiden Gefangenen. „Verneigt euch vor eurem künftigen Herrscher. Vor eurem Segen und eurem Fluch. Vor eurem neuen Allerreinsten Glaux.“
Eglantine und Primel verstanden zwar kein Wort, aber sie gehorchten und senkten die Köpfe.
„Ich brauche noch mehr Moos, damit das Heiligtum schön weich liegt. Meine Dunen habe ich mir schon alle ausgezupft. Gort und Tonk, ihr fliegt los und besorgt mir welche s – vielleicht könnt ihr ja Hasenohr auftreiben.“ Hasenohr-Moos war eine sehr seltene, besonders weiche Moossorte. „Für meinen süßen kleinen Allerreinsten ist das Beste gerade gut genug“, säuselte Nyra, aber ihr Blick war überhaupt nicht mütterlich liebevoll, sondern kalt und böse.
Dann baute sie sich vor Eglantine auf. Ihr großes weißes Gesicht war rußverschmiert, ihre schwarzen Augen glühten. „Sie weiß es.“ Die Worte schienen sich eher an ihre Leibwache zu richten als an Eglantine. „Sie weiß, dass ich nicht ihre Mutter bin, sondern die Herrin der Reinen, die Gefährtin des Hohen Tyt o – hab ich Recht, Herzchen ?“ Das Kosewort klang wie eine Verwünschung. Eglantine legte die Federn an und der Magen drehte sich ihr um.
Primel beobachtete die Freundin verstohlen. Auch sie fürchtete sich, doch zugleich war sie froh, dass Eglantine wieder bei Verstand war. Nyra hat nicht gemerkt, dass ich gar nicht zersprungen bin , dachte sie. Ob Eglantine mich durchschaut hat? Primel musste ihre Rolle weiterspielen, aber sie hätte der Freundin nur zu gern ein Zeichen gegeben, dass sie sich lediglich verstellte. Wenn sie fliehen wollten, mussten sie zusammenhalten.
„Ich hätte mir denken können, dass sie etwas im Schilde führt“, sagte Ginger. „Ich hab mich schon gewundert, dass sie bei diesem Wetter unbedingt herfliegen wollte.“
„Du meinst, sie ist nicht nur aus Liebe zu ihrer Mutter gekommen?“ Nyra schob sich noch dichter an Eglantine heran. „Mamas Herzzzccchhhen!“ Das letzte Wort zischte sie bösartig, und die anderen Reinen tschurrten hämisch. Nyra hielt den Blick fest auf Eglantine geheftet und fragte: „Und die d a …“, sie wies mit dem Flügel auf Primel, „ … die ist inzwischen zersprungen?“
„Jawohl, Herrin“, bestätigte Primels Bewacher, der Ruß-Schleiereulerich. „Ein für alle Mal.“
„Oh nein!“, entfuhr es Eglantine.
„Oh doc h – Herzchen“, kam es höhnisch von Nyra.
Glaub ihnen nicht, Eglantine! , dachte Primel. Wenn ich ihr doch nur ein Zeichen geben könnte, dass mit mir alles in Ordnung is t – aber ich habe beim besten Willen keine Idee, wi e …
Dafür hatte Eglantine eine Idee. Sie betrachtete das weiß schimmernde Ei. Wo Nyra es wohl bei ihren vorigen Besuchen versteckt hatte? Wann würde das Küken schlüpfen? Wenn ich mir das Ei schnappe, kriegt Nyra vor Schreck Flügelstarre. Ach was, Flügelstarr e – wenn wir das Ei haben, müssen alle Reinen machen, was wir wollen!
Eglantine war in der Ausbildung zur Rettungsfliegerin. Die Mitglieder der Rettungsbrigade waren besonders geschickt mit den Füßen, denn sie mussten oftmals hilflose Eulenküken vom Waldboden aufheben. Manche Küken waren verletzt, und die Retter mussten sie ganz vorsichtig tragen, damit sie ihnen nicht wehtaten.
Na los, Eglantine, lass dir etwas einfallen! Das Schleiereulenmädchen überlegte fieberhaft. Nyra sagte jetzt in leisem, drohendem Ton: „Ich habe mir den letzten Dunenflaum ausgerupft, um das
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