Die Legende der Wächter – Der Zauber
eine Ranke mit roten Winterbeeren. Aber konnte er nun singen oder nicht? Er kniff die Augen zu und rief sich eins der Lieder ins Gedächtnis, die die Stromerin Schneerose in den alten Legenden sang. Es erzählte vom Wanderleben und von der Freiheit. So etwas gefiel den Gästen in einem Met-Baum vielleicht. Coryn trällerte probehalber ein paar Zeilen.
Flieg mit mir fort,
Eh der Morgen anbricht,
Eine Höhle zum Wohnen
Brauchen wir nicht …
Für eine Schleiereule hörte er sich gar nicht übel an. Natürlich war er keine Madame Plonk – aber er klang auch nicht direkt zum Davonfliegen. Dann wollen wir mal!
Er riss eine Efeuranke ab, wand sie sich um den Kopf und steckte sich ein paar rote Beerendolden ins Schwanzgefieder. Dann schwang er sich in die Lüfte. Er freute sich über seinen Einfall, kam sich aber auch albern vor. Er hielt auf den Met-Baum zu.
Auf der Nordseite des Ahorns gab es noch reichlich freie Plätze. Die Gäste drängten sich alle auf der Südseite. Im Näherfliegen begriff Coryn auch, warum. Krämer-Ellies Waren leuchteten und funkelten im Schein der untergehenden Sonne. Sie hatte die Sachen auf einem roten Samtumhang ausgebreitet. „Oh ja, meineLiebe“, sagte sie gerade, „das stammt alles von meinem neuesten Fundort. Hol doch bitte mal die Hermelinfelle, Bubbles. Madame Plonk hat mir auch schon eins abgekauft.“
„Madame Plonk? Tatsächlich?“, fragte ein Eulenweibchen. Die Sängerin war in der ganzen Eulenwelt bekannt, nicht nur wegen ihrer herrlichen Stimme, sondern auch wegen ihrer Art, sich prächtig herauszuputzen.
„Aber ja, Schätzchen. Dir würde dieses rote Tuch mit dem Hermelinbesatz auch hervorragend stehen!“
„Ich habe gehört, Madame Plonk hätte Karriere gemacht. Stimmt das? Erstaunlich, dass sie mit dem schweren Umhang auf den Schultern singen kann.“
„Sie ist nicht mehr so jung wie du, Schätzchen“, antwortete Ellie ausweichend. Offenbar wollte die Elster nicht über ihre beste Kundin herziehen. „Sie trägt den Umhang vor allem in ihrer Wohnhöhle, wenn sie zum Tee einlädt. Da fällt mir ein, dass sie mir neulich meine letzte Krönungstasse abgekauft hat. Aber ich glaube, ich weiß, wo ich noch eine auftreiben kann.“
Coryn hielt sich unauffällig im Hintergrund. Von dort aus konnte er Ellies Waren eingehend betrachten. Aber es war nicht der übliche „Plunder“, wie Otulissa abfällig zu sagen pflegte, der seine Aufmerksamkeit erregte, sondern ein zerlesenes altes Buch, das unbeachtet am Rand lag. Der Einband bestand aus Lemminghaut. Lemminge lebten ausschließlich in den Nordlanden beziehungsweise in N’yrthgar, wie man früher gesagt hatte. In den Buchdeckel war ein seltsamer Vogel graviert. Coryns Magen erstarrte erst und krampfte sich dann zusammen. Der Vogel war eine Kreuzung aus Eule und Papageientaucher. Eine Papageieneule! Ein Mischwesen, wie es die Hägsdämonin Krieth in ihren Experimenten erschaffen hatte. Das war ihr Buch – Krieths Zauberbuch!
„Ja, ich weiß – ihr seid sauer auf mich, weil ich abgehauen bin.“ Coryn wandte den Kopf und schielte zu seinen Gefährten hinüber. „Aber ich bin nicht die erste und einzige Eule, die so etwas tut. Schließlich habe ich mir gestern den ganzen Tag lang angehört, wie ihr vier euch früher immer aus dem Großen Baum verdrückt habt.“
„Auch wieder wahr“, musste Soren zugeben.
„Aber warum?“, fragte Gylfie mit erstickter Stimme. „Wir waren ganz krank vor Sorge um dich! Du bist schließlich nicht irgendeine Eule, Coryn. Du bist unser König.“
„Stimmt. Ich bin nicht irgendeine Eule.“ Coryn stockte. „Aber dass ich abgehauen bin, hatte nichts damit zu tun, dass ich König bin“, sagte er dann.
Soren legte unwillkürlich die Federn an. Will er ihnen jetzt etwa erzählen, dass …?
Coryn konnte anscheinend Gedanken lesen. Er drehtesich zu seinem Onkel um. „Irgendwann müssen sie es erfahren, Soren. Es ist an der Zeit.“
„An der Zeit wofür? Was müssen wir erfahren?“, wollte Digger wissen. Der Höhlenkauz wechselte einen beunruhigten Blick mit Gylfie und Morgengrau.
Soren schloss die Augen und versuchte, den Tumult in seinem Magen zu unterdrücken. Vielleicht hatte Coryn ja Recht. Vielleicht legte sich das quälende Gegrübel über seine Mutter ein wenig, wenn er endlich offen darüber sprach.
„Ich glaube, dass meine Mutter Nyra eine Hägsdämonin ist.“
Daraufhin legten auch Digger, Morgengrau und Gylfie das Gefieder an. Der Bartkauz Morgengrau war
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