Die Legende der Wächter – Der Zauber
Irgendwo hatte er mal gehört, dass keine Schneeflocke der anderen glich. Bestimmt gleicht auch keine Flamme der anderen. Irgendwann mal hatte er den Versuch unternommen, die verschiedenen Abstufungen von Rot zu zählen. Aber das Orangerot verwandelte sich nach und nach in Gelb … und in dem Gelb erschien … Sein Magen zog sich zusammen. Ein wunderschönes helles Braun!
Soren hatte Recht. Das ging alles viel zu schnell. Sie mussten sofort ihren Kurs ändern. Nicht die Höhle in den Ägolius-Schluchten war ihr erstes Ziel.
Ein solch schimmerndes Hellbraun hatte Coryn erst ein einziges Mal gesehen, aber nicht in einem Feuer, sondern bei seinem Aufenthalt in den Hinterlanden. Es war die Farbe eines Wolfsfells. „Gyllban!“
Bis in die Hinterlande war es ein weiter Flug, aber der Wind blies von achtern und gab ihnen auf ihrem nordwestlichen Kurs kräftig Anschub. Die Nacht näherte sich dem Ende. Der Mond war in eine andere Welt hinübergeglitten und das dunstige Zwielicht kurz vor dem Tagesanbruch hatte eingesetzt.
Sie wechselten die Plätze. In diesem trüben Licht voller trügerischer Schatten und verschwommener Horizonte war es besser, wenn Morgengrau wieder an der Spitze flog.
Soren spürte im Magen nicht nur seine eigene gespannte Vorfreude, sondern auch die seiner Gefährten. Endlich würden sie die mutige Wölfin Gyllban kennenlernen. Gyllban hatte sich seinerzeit gegen ihren eigenen Clan gestellt, die berüchtigten MacHeath, und sich mit Coryn angefreundet. Der Anführer des Clans, Dunleavy Betmore MacHeath, hatte Gyllbans Sohn verstümmelt.
Soren verspürte abermals ein Ziehen im Magen. Otulissa! Hatte er von ihr geträumt? Hatten ihm die Sterne etwas offenbart, was er jetzt, da er wach war, nicht benennen konnte? Es kam ihm seltsam vor, dass er zum allerersten Mal in die Hinterlande flog. Otulissa war schon vor ihm dort gewesen. Sie war Coryn begegnet, hatte ihm das Glutsammeln beigebracht und dann … Was dann geschah, ist allgemein bekannt .
„Feuer am Himmel! Vulkane voraus!“, rief Morgengrau über die Schulter.
Die fünf Eulen landeten auf einem Bergrücken und bestaunten die Aussicht. Was für eine fremdartige, aber auch faszinierende Gegend die Hinterlande waren!
Da kamen auch schon drei Wölfe angetrabt – die tapfere Gyllban, ihr Sohn Cody und der treue Hamisch, Coryns bester Freund während seiner Zeit in den Hinterlanden.
Hamisch war mit einem Hinkefuß zur Welt gekommen und hatte vorübergehend in der Heiligen Garde, bei den Bewachern der Vulkane und der Glut, Dienst getan. Zu den Segnungen der Glut gehörte auch, dass sie nach ihrer Bergung die Wölfe der Wache von ihren Gebrechen erlöste. Knochenbrüche wuchsen wieder zusammen, krumme Pfoten wurden gerade, missgebildete Gliedmaßen wurden gesund und kräftig. Als Coryn seinen Freund jetzt leichtfüßig den geröllbedeckten Abhang hochspringen sah, überlief ihn ein freudiger Schauder. Und auch wenn er viele Flugstunden vom Großen Baum entfernt war, spürte er im Magen ein sanftes Glühen, das nur von der Glut herrühren konnte. Ein eigenartiges Gefühl. Coryn hatte noch gar nicht gewusst, dass die Glut auch aus der Entfernung wirken konnte.
Dieser Gedanke kam ihm, als er zur Begrüßung Hamischs feuchte Schnauze mit dem Schnabel berührte. In den Augen des Wolfes leuchtete es so grün wie im „Magen“ der Glut von Hoole, wie Coryn es insgeheim nannte. Die Wärme in seinem eigenen Magen war wie eine Antwort auf das grüne Flackern in Hamischs Augen.
Soren staunte. Aus den alten Legenden wusste er einiges über die Wölfe und ihre Clans, und auch Coryn hatte ihm von ihren Sitten und Bräuchen erzählt. Was nun geschah, überraschte ihn dennoch. Trotz Coryns verhaltenem Protest duckten sich die drei Wölfe tief auf den felsigen Boden, verrenkten die Hälse nach allen Richtungen, legten die Ohren an und verdrehten die Augen, bis man das Weiße sah. So verhielten sich Wölfe von niederem Rang gegenüber Ranghöheren. Coryn war ein König und das Verhalten der Wölfe erinnerte ihn wieder daran.
Nach einer ausführlichen Begrüßungs- und Vorstellungsrunde wandte sich die wunderschöne Wölfin Gyllban an Coryn. „Also, mein Freund – was führt dich zu uns? Weshalb hast du deine ferne Insel mitten im Meer verlassen?“
Coryn wandte den Kopf und ließ den Blick über die fünf Vulkane schweifen, die den Heiligen Kreis bildeten. Es sieht anders aus als damals , dachte er. Glutsammler stürzten sich von oben auf die
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