Die Legende der Wächter – Der Zauber
„Das geschieht mir ganz recht! Ich bin eine schlechte Eule. Ich habe etwas ganz Schlimmes getan.“
„Aber, aber, Gnädigste. So schlimm wird es schon nicht sein.“
„Doch!“
Von Schluckauf und Schluchzern unterbrochen, berichtete die Sängerin dem fremden Schnee-Eulerich, was geschehen war. Es war eine ziemlich wirre Geschichte über Teetassen, Asche, eine gebrochene Stimme, eine Fleckenkäuzin namens Otulissa und einen Schleiereulerich namens Coryn.
„Coryn!“, rief der fremde Schnee-Eulerich aus.
„Ja, Coryn. Der König im Großen Baum.“
„Sie kommen also vom Großen Ga’Hoole-Baum?“
Madame Plonk nickte.
„Dann sind Sie gewiss die berühmte Sängerin.“
„Gewesen“, stellte Madame Plonk richtig.
Der fremde Schnee-Eulerich schien nicht ganz zu verstehen, was sie damit meinte, aber er fuhr fort: „Ich habe schon viel von Ihnen und vom Großen Baum gehört und natürlich auch von dem jungen König Coryn.“ Er machte eine Pause. „Ich habe ihn schon gekannt, als er noch Nyroc hieß“, setzte er dann hinzu.
„Ach wirklich?“
„Leider stand unsere kurze Bekanntschaft unter keinem guten Vorzeichen. Dafür schäme ich mich heute.“
„Ich muss ihn unbedingt finden. Ihn und die Bande.“
„Dann haben Sie ja Glück, dass Sie mich getroffen haben. Darf ich mich vorstellen: Doktor Schönschnabel, der beste Kundschafter in den ganzen Südlanden. Nyra hatte mich seinerzeit angeheuert, ihren entflohenen Sohn wieder einzufangen. Wenn irgendwer Coryn finden kann, dann ich. Ich kenne sein Flugmuster in- und auswendig. Am besten brechen wir sofort auf.“
„Sofort? Sind Sie gaga? Es ist helllichter Tag. Die Krähen würden über uns herfallen!“
„Ach wissen Sie, die Krähen …“ Der Schnee-Eulerich legte den Kopf schief, sodass die schwarze Feder auf seiner Schulter ein bisschen verrutschte. „Die Krähen und ich haben sozusagen ein Abkommen geschlossen. Die Feder, die ich trage … wie ich zu ihr gekommen bin, würde jetzt zu weit führen, darum nur so viel:Die Feder garantiert mir tagsüber freies Geleit. Sie ist sozusagen mein Schutzschild gegen Krähenangriffe.“
„Aha …“ war alles, was Madame Plonk herausbrachte. Dabei spürte sie ein seltsames Flattern im Magen. Ein Flattern, das sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte.
Na so etwas … Aber halt! Ich darf mich auf keinen Fall ablenken lassen! Ich habe einen wichtigen Auftrag!
Es wurde beschlossen, dass Gylfie den Tunnel der Verzweiflung erkunden sollte. Diese Wahl hatte zwei Gründe: Erstens war Gylfie klein und zierlich. Sie konnte unentdeckt durch den gewundenen Gang huschen, der stellenweise nicht breiter war als die Flügelspannweite einer Schleiereule. Zweitens war sie die Oberste Navigatorin des Großen Baumes. Sie fand sich unter allen erdenklichen Bedingungen zurecht. Sogar unter der Erde, wo man sich nicht am Sternenhimmel orientieren konnte.
Auf ihrem Flug durch das verzweigte Labyrinth kam sie immer wieder an Steinblumen vorbei. Eine weniger kluge und unerschrockene Eule hätte sich womöglich vor den eigenartigen Steingebilden gefürchtet. Sie wuchsen scheinbar wie durch Zauberei aus dem Boden, den Wänden und der Decke des Tunnels und hatten die verschiedensten Formen: von nadelspitzen Vorsprüngen bis hin zu prächtigen Blüten, die in einem ewigenFrühling verharrten. Aber Gylfie war sowohl klug als auch unerschrocken. Sie konzentrierte sich ganz darauf, sich ihre Sternkarten ins Gedächtnis zu rufen. In ihrem Magen vibrierten die magnetischen Schwingungen der Erdpole. Sie war sozusagen ein lebender Kompass.
Trotzdem machte es ihr zu schaffen, dass sie unter der Erde war. Sie hatte genug Platz zum Fliegen und doch kam es ihr vor, als würde sie lebendig begraben. Jeder Flügelschlag trug sie tiefer ins Innere der Erde.
Die Erde ist einfach kein Ort für Flügelwesen , dachte sie. Der feuchtkalte Geruch nach Lehm und Fels beleidigte ihre Sinne. Am schlimmsten aber war, dass sie den Himmel nicht sehen konnte. Genau so war es während ihrer Gefangenschaft in Sankt Ägolius gewesen. Auch in den tief eingeschnittenen Felsschluchten hatte man den Himmel nicht gesehen, war aber dem unbarmherzigen Schein des Mondes ausgesetzt gewesen. Bei dieser Erinnerung drehte sich ihr der Magen um und ihr Herz schlug schneller.
Ganz ruhig! , ermahnte sie sich. Der Himmel ist noch da. Du siehst ihn bloß nicht. Du hast schon ganz anderes durchgestanden. Du tust es für deine Freunde. Für den Großen Baum. Für
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