Die Legende der Wächter – Der Zauber
seinem silbernen Schein, von den Sternen … ihren geliebten Sternen, die ihre wohlbekannten Bahnen über den samtschwarzen Himmel zogen. Sie schlüpfte in die Nische. Ihr Blick fiel auf einen Plattwurm, der über den Felsen kroch. Sie löste ihn mit den zierlichen Krallen vom Gestein und verschlang ihn. Dann schloss sie für ein kurzes Nickerchen die Augen.
Es war der Geruch, der sie weckte – ein widerwärtiger Gestank nach nassem Fell. Und da heißt es immer, wir Eulen hätten keinen Geruchssinn! Als Nächstes vernahm Gylfie hechelnde Atemzüge. Ganz in meiner Nähe!
Sie schloss die Augen und redete sich gut zu. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren! Finde heraus, was da los ist. Sie trippelte an den Rand der Felsnische. IhreKrallen klackerten über den Stein und sie blieb wie angewurzelt stehen. So ging das nicht. Sie musste fliegen. Leider war sie keine besonders lautlose Fliegerin. Aber zu Fuß verursachte sie noch mehr Lärm.
Sie hielt sich dicht an der Tunnelwand. Plötzlich erblickte sie einen Lichtschein. Sie blinzelte – einmal und noch einmal. In dem dunklen Gang schwebte ein Mond!
Gylfie verlor einen Augenblick lang die Orientierung und vergaß, mit den Flügeln zu schlagen. Beinahe wäre sie gegen eine Steinblume geprallt, bekam sich aber noch rechtzeitig wieder in den Griff. Sie landete. Der Mond? Hier unten? Ausgeschlossen!
Dann begriff sie, dass sich der Mond durch eine Öffnung in der Tunneldecke in einer Wasserfläche spiegelte. Dahinter erweiterte sich der Tunnel zu einer großen Höhle. Die Wasseroberfläche war glatt und unbewegt. Alle anderen unterirdischen Seen, an denen Gylfie vorbeigekommen war, hatten geblubbert und gebrodelt. Dieser nicht. Und nicht nur der Mond spiegelte sich darin, sondern auch die Gesichter von sechs Wölfen.
„Trinkt! Trinkt in vollen Zügen!“, forderte einer von ihnen seine Artgenossen auf. „Es ist schon einen halben Mondzyklus her, dass wir uns zuletzt am Vyr gelabt haben. Unsere Kräfte sind geschwunden, aber sie werden zurückkehren. Trinkt!“
Beim Sprechen hob der Wolf den Kopf und drehte ihn in Gylfies Richtung. Im Dunkeln leuchteten seine Augen wie zwei gelbe Flammen. Gylfies Magen wurde eiskalt. Ihre Flügel gehorchten ihr nicht mehr. Genau so war das Fyngrott in den alten Legenden beschrieben! Der Wolf war ein Hägswolf, anders konnte es nicht sein.
Die Elfenkäuzin legte das Gefieder an und machte sich ganz klein. Dann hörte sie Flügelschläge näherkommen. Und plötzlich erschien ein zweiter Mond. Ein Mond mit einer Narbe. Es gab nur eine einzige Eule auf der Welt, die so eine Narbe im Gesicht trug. Nyra!
„Und du bist sicher, dass du in der Höhle da drüben herausgekommen wärst, wenn du bis zum Ende des Tunnels gekommen wärst?“
Soren deutete mit dem Schnabel in die Richtung, die er meinte. Als Gylfie wieder am vereinbarten Treffpunkt im Schattenwald erschienen war, waren die fünf Eulen sofort zu den Sankt-Ägolius-Schluchten aufgebrochen.
„Ja, da bin ich ganz sicher.“ Die Elfenkäuzin nickte bestätigend.
„Und es hat dich wirklich niemand bemerkt?“
„Nein. Die Wölfe waren mit Trinken beschäftigt. Keiner hat mich gesehen.“
„Und in dieser Höhle hat auch Kludds Abschiedsfeier stattgefunden?“, wandte sich Morgengrau an Coryn.
„Richtig. In den Schluchten dort drüben bin ich aufgewachsen.“
Coryn schaute sich um. Die Gegend weckte bei ihm ungute Erinnerungen. Seine Erster Flug -Feier. Die Wutausbrüche seiner Mutter. Seine Verzweiflung über den Tod seines Freundes Philipp, den Nyra ermordet hatte. Seine Bestürzung, als er bei der Bestattung seines Vaters zum ersten Mal Bilder im Feuer erblickt und begriffen hatte, dass Nyra ihn vom Augenblick seines Schlüpfens an immer nur belogen hatte.
Was für eine geradezu unheimliche Laune des Schicksals, dass der Tunnel der Verzweiflung ausgerechnet in jene Höhle mündete, in der Kludd gestorben war!
Coryn, die Bande, Gyllban und die anderen Wölfe hatten sich auf einem Bergkamm versammelt. Unterwegs hatten die Wölfe eine Byrrgis eingehalten, die sich „Flinkpfote“ nannte. In dieser Laufordnung schlugen sie einen raschen Trab an, in dem sie große Entfernungen überwinden konnten.
Noch mehr Wölfe aufzutreiben, war nicht leicht gewesen. Es war gerade Paarungszeit. Die Clans hatten sich über ihre Reviere zerstreut. Aber Hamisch hatte gewusst, wo sich Duncan MacDuncan und sein Stellvertreter aufhielten. Gyllban hatte sich an Fitzmore MacFang gewandt, der
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