Die Legende unserer Väter - Roman
meinen Vater sprechen.
»Ich verstehe vollkommen.«
»Wirklich?«
»Ich habe großen Respekt vor Ihrer Haltung.«
»Keine Schmeicheleien, bitte. Lassen Sie mir einfach meinen Rhythmus. Ich möchte das, was ich hier tue, später nicht bereuen.«
***
»Er mag Sie«, befand Lupuline mit einem Lächeln.
»Meinen Sie?«
»Ich weiß es.«
Sie hatte bei mir vorbeigeschaut. Nur so, aus Höflichkeit. Ich hatte ihr von unserer dritten Sitzung erzählt. Dass ich an diesem Abend ganz betrübt nach Hause gekommen sei. Mitnichts in der Hand, was ich hätte schreiben können. Vergeblich meine Notizen durchforstet hätte. Und mich geärgert. Da war die Geschichte mit den drei großartigen Jungs auf dem Fahrrad im Novemberregen. Der Blumenstrauß auf dem Grab, die Fähnchen, die kindliche Botschaft, die grüngrauen Wolken. Und jetzt? Was sollte denn auf der nächsten Seite stehen? Die Schlacht an der Somme? Der große Eisenbahner-Streik vom Mai 1920? Was sollte ich Beuzaboc nächste Woche zu lesen geben? Wie konnte ich ihn zurückbringen zu sich und seinen Erfahrungen? Er verzettelte sich. Ich verzettelte mich.
Lupuline lächelte immer noch. Sie kenne dieses Vagabundieren des Denkens. Die endlosen Geschichten und zu vielen Worte. Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Fächer und überlegte. Dann erzählte sie es mir.
Als Halbwüchsige habe sie fünf Abenteuer ihres Vaters in ihr Tagebuch geschrieben. Die größten, wirklich. Fünf Heldentaten aus seinem Leben als Widerstandskämpfer, die er ihr früher immer zum Schlafengehen habe erzählen müssen. Rund dreißig Seiten Kriegserlebnisse von Tescelin Beuzaboc. Jetzt wolle sie mir ein Geheimnis verraten. Lupuline rückte näher. Sie habe das alles aufbewahrt, um ein Buch darüber zu schreiben: »Der Krieg meines Vaters.« Sie war fünfzehn. Der Titel von Marcel Pagnol inspiriert. Sie versuchte es. Versuchte es immer und immer wieder. Die Tage vergingen. Dann machte sie einen neuen Anlauf. Schrieb, strich, zerriss, tobte und gab schließlich auf. Das Buch sei ein jugendlicher Entwurf geblieben, doch die Idee habe sie nicht mehr losgelassen. Sie schmökere öfter darin. Sehe ihr Kinderzimmer wieder vor sich, im milchigen Licht aus demGlobus. Den Schatten ihres Vaters, der den ganzen Raum einnahm, wenn er sich erhob. Höre seine Stimme wieder und wie er das Anstecken einer Salpeterzündschnur nachpfiff, während sie allmählich in den Schlaf sank. Jedesmal, wenn sie ihr Tagebuch weglege, bedauere sie, dass sie über den Anfang nicht hinausgekommen sei. Die Lust am Schreiben sei ihr vergangen, die Lust am Lesen unverändert geblieben. Um ihr Tagebuch zum Sprechen zu bringen, müsse ihr Vater reden. Deshalb habe sie sich an mich gewandt.
»Könnten Sie das Tagebuch gebrauchen?«
Ja. Auf jeden Fall. Und so bald wie möglich. Am besten noch vor der nächsten Sitzung. Ich wollte es lesen, bevor ich mich verrannte. Lupuline versprach, es gleich am nächsten Tag vorbeizubringen. Sie schien es eilig zu haben und wirkte aufgeregt. Ihre Rechtschreibung möge ich ignorieren, auch den Stil und so weiter. Ich solle nur die fünf Kapitel aufnehmen wie im Wald verstreute weiße Kiesel.
Mein Bürofenster stand offen. Lupuline saß in einem leichten Kleid vor mir, die Brille in die Haare geschoben, und fächelte sich auf Augenhöhe Luft zu. Ich schenkte ihr ein Glas kaltes Wasser ein. Sie trank. Und beobachtete mich. Der Blick ihres Vaters.
***
Lupuline hatte recht. Man brauchte nicht sämtliche Kriegserlebnisse ihres Vaters zu erzählen, diese fünf Geschichten genügten. Fünf kleine Wunder von Mut und Stolz. Fünf unabhängige Kapitel, einleuchtend und einfach zu gestalten.Als erstes das Grab des Engländers. Lupuline hatte in ihrem Mädchentagebuch Anmerkungen gemacht und sich ein paar Freiheiten genommen. Das Datum war nur ungefähr getroffen, der Friedhof war nicht der richtige, der Name des Soldaten stimmte nicht. Statt drei waren es sieben junge Widerstandskämpfer auf dem Fahrrad, und Beuzaboc trug eine Pistole im Gürtel. Ich musste lachen. Die paar Blumen aus dem Garten waren der kleinen Lupuline nicht schön genug. Aus der patriotischen Geste wurde eine militärische Operation. Und bei der gefahrvollen Rückkehr entkamen die Jungs dem Tod nur ganz knapp. Die zweite Geschichte handelte von der Flucht eines englischen Piloten, der sich im Dezember 1940 auf einem Bauernhof im Südwesten von Lille versteckte. Tescelin Beuzaboc war dreizehn Wintertage mit ihm allein. Dann brachte er
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