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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Achslager oder im Schmieröl gegeben, die Bremsklötze im Ablaufventil des Heizkessels, schlecht reparierte Teile, die als normale Abnutzung getarnte Beschädigung einer Pleuelstange, die vorsätzlich vertrödelte Zeit, den absichtlich schlurfenden Gang.
    »Dafür brauchte man keinen Chef, kein Netz, keine Bewegung. Das war man allein. Ein Mann, sein Gewissen, sonst nichts. Keiner hat mal darüber ein Buch gemacht oder einen Film, keiner.«
    Beuzaboc war erschöpft. Er verstummte. Hob eine Hand und schwieg. Wir waren erst dreißig Minuten zusammen, aber ich begriff, dass unsere Sitzung hier zu Ende war. Er goss sich noch einmal nach. Der Ventilator blies sein Hemd und ein Büschel seiner weißen Haare hoch. Ich traute michnicht, mein Notizbuch zu schließen. Mich zu bewegen. Eine Frage zu stellen.
    »Wir machen Schluss«, murmelte der alte Mann.
    »Wir machen Schluss?«
    »Ja, für heute ist Schluss.«
    Ich packte meine Sachen zusammen. Ich hatte mich kaum richtig hingesetzt. Ich mied seinen Blick, aber er beobachtete mich.
    »Ihre Fragen zu Wimpy nehmen wir uns nächste Woche vor. Das wird unsere siebte Sitzung, stimmt’s?«
    Ich bejahte. Wasser rann aus meinen Haaren. Ich streckte ihm die Hand hin. Er drückte sie. Begleitete mich aber nicht zur Tür. Angespannt ging ich hinaus. Ich war traurig. Die Straße glühte. Die Luft legte sich wie eine Last auf mich. Ich brauchte ein Bier oder zwei. Literweise Frische. Ich ging nach Hause. Schrieb aber nicht. Was hätte ich schreiben sollen? Oben auf der rechten Seite notierte ich die erste Frage, die ich ihm nächsten Dienstag stellen müsste. Immer noch dieselbe. Ohne sie würde ich nicht weiterkommen: Wer waren die Jungs? Woher kamen diese Männer? Ein junger Mann versteckt einen englischen Flieger im besetzten Frankreich und bringt ihn über die Somme. Wem übergibt er ihn dort? Ein junger Mann ermordet am helllichten Tag mitten in der Stadt einen deutschen Soldaten. Wem erstattet er am Abend Bericht? In jenen Zeiten konnte ein junger Eisenbahner eine Schraube lockern, in der Werkstatt herumschlurfen, einen Montageplan verlegen, mit dem Ellbogen einen Hebel drücken. Aber es war ihm unmöglich, ohne Hilfe, ohne Unterstützung, ohne Befehl oder Kommando einen Mann zu schützen und einen anderen zu töten.

15
    Es war ein großer, beängstigender Moment. Ich wartete auf seine Antwort. Schweigend, die Kugelschreiberkappe zwischen den Lippen. Wieder einmal kam mir der alte Mann riesig vor, er füllte das ganze Zimmer aus. Seit Beginn der Sitzung hatte Beuzaboc sein Taschentuch in der Hand. Er tupfte sich damit nicht mehr die Stirn, sondern schüttete Wasser aus seiner Flasche darauf, breitete es aus und legte es sich aufs Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Morgen wurde im Radio von »Affenhitze« gesprochen. Es war Dienstag, der 5. August 2003. Die Hitze war kompakt. Sie lastete auf den Schultern, blieb auf den trockenen Lippen liegen, verklebte die schmerzende Nase und pappte in der Kehle wie Brotkügelchen. Beuzaboc hatte den Ventilator höhergestellt. Die Flügel rührten in der Luft wie in einer dicken Suppe.
    »Sie hatten einen Codenamen. Als Angehöriger eines Widerstandsnetzes hatte man einen Codenamen. Bei welcher Organisation haben Sie gekämpft?«
    Der alte Mann hatte sein Taschentuch vom Gesicht genommen. Davor hatte er lange dagesessen und die Haut in den weißen Stoff geschmiegt. Er warf mir einen Blick zu, schloss die Augen, setzte seine Brille wieder auf. Und begann zu singen.
    Sang mit geschlossenen Augen, die Hände auf den Armlehnen des Sessels, den Stock zwischen den Knien. Als wäre er allein oder verrückt oder von allem erschöpft.
    Ich habe mein Fenster verriegelt.
    Eisiger Nebel herrscht überall.
    Er dringt sogar in unser Zimmer,
    wo das, was war, mir wird zur Qual.
    Ich notierte die Worte, um Haltung zu bewahren. Sorgfältig, auf einer rechten Seite, wo ich sonst seine Antworten aufschrieb. Um den Kopf nicht heben zu müssen. Um den alten Mann nicht zu stören. Seine Stimme war rau und stumpf, wie Ziegelsplitter.
    »Kennen Sie das?«
    »Ja«, sagte ich. »Die Melodie, nicht den Text.«
    Der alte Mann lächelte. Er befeuchtete sein Taschentuch wieder. Das sei oft so, sagte er. Vom Krieg kennen die Leute heute die Melodie, aber nicht den Text. Er stand auf und ging auf die geschlossenen Fensterläden zu, als wollte er aus den Lichtstrahlen Atem schöpfen.
    »Das Chanson heißt ›Nachts bin ich allein‹, gesungen hat es Léo Marjane 1941.«
    Dann

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