Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Galen uns erlaubte. »Bis jetzt habe ich euch mit der Gabe berührt, damit ihr euch daran gewöhnt. Jetzt, heute, werden wir eine wirkliche Kommunikation anstreben. Ihr kommt mir entgegen, wie ich euch entgegenkomme. Doch nehmt euch in acht! Die meisten haben der Verlockung, die mit der Erfahrung der Gabe einhergeht, widerstehen können. Aber was ihr gespürt habt, war ein bloßer Hauch der Macht. Diesmal wird die Gefahr größer sein. Bleibt standhaft, aber verschließt euch nicht.«
Wieder begann er seinen langsamen Rundgang von einem zum anderen. Ich wartete aufgeregt, doch ohne Angst. Auf diesen Moment hatte ich gewartet. Ich war bereit.
Einige versagten offenbar und wurden für Faulheit oder Ungeschick gescholten. August erhielt ein Lob. Serene schlug er mit der flachen Hand ins Gesicht, weil sie ihm zu hastig entgegenkam. Dann trat er vor mich hin.
Ich wappnete mich wie für einen Ringkampf. Auf die Berührung reagierte ich mit einem zaghaften Darbieten von Gedanken. Ist es so richtig?
Ja, Bastard. So ist es richtig.
Einen Augenblick lang befanden wir uns im Gleichgewicht, in der Schwebe, wie zwei Kinder auf einer Wippe. Ich spürte, wie er unsere Verbindung stabilisierte. Um ohne Vorwarnung zu attackieren. Es fühlte sich genauso an, als hätte mir jemand einen Tiefschlag versetzt, aber geistig, nicht körperlich. Statt daß ich nicht atmen konnte, konnte ich meine Gedanken nicht beherrschen. Er wühlte in meinem Bewußtsein, plünderte meine Erinnerungen, und ich vermochte ihn nicht zu hindern. Galen hatte gesiegt und wußte es. Doch in diesem Augenblick sorglosen Triumphs erspähte ich eine Blöße. Ich griff nach ihm, bemächtigte mich seines Bewußtseins wie er sich des meinen, packte ihn und hielt ihn fest und ergab mich dem Gefühl, daß ich stärker war als er, stark genug, in seinem Kopf nach Belieben schalten und walten zu können. »Nein!« kreischte er, und eine Ahnung sagte mir, daß er früher einmal auf die gleiche Art mit jemandem gerungen hatte. Mit jemandem, der ebenfalls Sieger geblieben war, wie ich Sieger zu bleiben beabsichtigte. »Doch!« beharrte ich.
»Stirb!« befahl er, aber ich wußte, er war machtlos, mir unterlegen, und ich bündelte meinen Willen und verstärkte meinen Griff.
Die Gabe ist unparteiisch. Sie begünstigt keinen, und jede Unaufmerksamkeit wird bestraft. Siegesgewiß wie ich war, vergaß ich, mich vor der Ekstase zu schützen, die sowohl der Honig als auch der Stachel der Gabe ist. Die Euphorie brandete über mich hinweg, zog mich in die Tiefe und Galen mit, der nicht länger in meinem Bewußtsein forschte, sondern nur darum kämpfte, in seines zurückzukehren.
Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares erlebt.
Galen hatte es Lust genannt, und ich hatte eine angenehme Empfindung erwartet – etwas wie Wärme im Winter, den Duft einer Rose oder einen süßen Geschmack im Mund. Nichts davon traf zu. Lust ist ein zu körperlicher Begriff, um auszudrücken, was ich fühlte. Es erfüllte mich, durchflutete mich wie eine Woge, gegen die ich mich nicht zu behaupten vermochte. In diesem Taumel vergaß ich Galen und die Welt. Ich fühlte, wie er mir entglitt, und eine innere Stimme mahnte Gefahr, aber ich achtete nicht darauf. Wichtig war nur, diese unvergleichliche Empfindung auszukosten.
»Bastard!« schrie Galen und schlug mir die geballte Faust gegen die Schläfe. Ich stürzte, hilflos, denn der Schmerz genügte nicht, den Bann zu brechen. Obwohl ich die Tritte spürte, den harten, kalten Steinboden, fühlte ich mich entrückt, unverletzlich. Mein Verstand beruhigte mich, ungeachtet der Schmerzen, alles wäre gut, kein Grund, sich zu wehren oder die Flucht zu ergreifen.
Dann war der Höhepunkt überschritten, die Ebbe trat ein, dem Flug zur Sonne folgte der Absturz. Galen stand über mir, zerrauft und schwitzend. Sein Atem dampfte in der Winterluft, als er sich zu mir herabbeugte. »Stirb!« zischte er, aber ich hörte das Wort nicht, ich spürte es in jeder Faser meines Körpers.
Im Gefolge des Rauschs brach eine Lawine aus Versagen und Schuld über mich herein, die die körperlichen Qualen unbedeutend erscheinen ließ. Meine Nase blutete, die Brust tat mir weh, und als die brutalen Stiefeltritte mich über den Boden stießen wie ein schlaffes Bündel Lumpen, hatten die rauhen Steinplatten mir die Haut aufgescheuert. Die Schmerzen waren so vielfältig, ein Schwarm zorniger Wespen, daß ich nicht einmal abschätzen konnte, wie es um mich stand. Mir fehlte die
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