Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Kraft – und der Wille, wieder aufzustehen. Doch mehr als alles andere quälte mich die Schande, versagt zu haben. Ich war besiegt und unwürdig – Galen hatte recht behalten.
Wie aus weiter Ferne hörte ich seine erhobene Stimme, als er den anderen predigte: »Hütet euch, denn so werde ich mit jedem verfahren, der der Verlockung der Gabe erliegt.« Und er schilderte in düsteren Farben, welches Schicksal dem Unwürdigen drohte, der danach strebte, die Gabe zu gebrauchen, und statt dessen unter ihren Bann geriet. Er verlor den Verstand, wurde zu einem lallenden Idioten, der seinen Namen nicht kennt, der sich beschmutzt, vergißt zu essen, vergißt zu trinken, bis er stirbt. Eine Kreatur, nicht einmal der Verachtung wert.
Und eine solche Kreatur war ich. Die Verzweiflung schlug über mir zusammen, und ich begann haltlos zu schluchzen. Zu Recht hatte Galen mich gezüchtigt. Ich verdiente eine noch härtere Strafe. Nur fehlgeleitetes Mitleid hatte Galen davon abgehalten, mich zu töten, mich, der ihm die Zeit stahl, der seine Warnungen in den Wind schlug und seine Lehren zu eitlem Tun mißbrauchte. Vor der brennenden Scham wandte ich mich nach innen, aber auch dort fand ich nur Abscheu und Selbsthaß. Sterben ... Der Sturz vom Turmdach löschte die Schmach nicht aus, aber wenigstens brauchte ich sie nicht mehr zu ertragen. Ich lag ausgestreckt auf dem Boden und weinte.
Die anderen verließen die Terrasse. Jeder hatte im Vorbeigehen ein Schimpfwort für mich, einen Fußtritt, einen Schlag, und wenn das nicht, spuckten sie mich an. Ich merkte es kaum. Die Verachtung, die ich für mich selbst empfand, war größer, als ihre je sein konnte. Dann waren sie fort, und nur noch Galen stand bei mir. Er stieß mich mit dem Fuß an, aber ich war nicht fähig zu reagieren. Plötzlich war er überall, um mich herum, in mir, und ich konnte ihn nicht aufhalten. »Nun siehst du, Bastard«, sagte er ruhig, »ich habe versucht, ihnen zu erklären, daß du nicht würdig bist, daß die Gabe dir den Tod bringen würde. Aber du wolltest nicht hören. Du bist ein Schmarotzer, der von der Kraft eines anderen zehrt. Auch darin hatte ich recht. Gut, gut ... Dies ist doch keine Zeitverschwendung gewesen, wenn es uns von dir befreit.«
Ich weiß nicht, wann er ging und mich meinem Elend überließ. Nach einiger Zeit wurde mir bewußt, daß es der Mond war, der auf mich herabschaute, nicht Galen. Ich drehte mich auf den Bauch. Stehen konnte ich nicht, aber kriechen. Zielstrebig schob ich mich zu der Stelle hin, wo die Brüstung niedriger war. Ich hatte vor, auf eine Bank zu klettern und von dort auf die Mauer. Und von dort – in die Tiefe. Ein Ende machen.
Es war eine lange Reise in der Kälte und Dunkelheit. Irgendwoher hörte ich ein Winseln, und dafür verachtete ich mich auch. Als ich weiterkroch, wurde es deutlicher, lauter, ein Protest gegen das Schicksal, das ich für mich ausersehen hatte, eine unbeirrbare Stimme, die mir verbot, aufzugeben, die mein Versagen leugnete. Sie war gleichzeitig Wärme und Licht und gewann an Intensität, während ich herauszufinden versuchte, woher sie stammte.
Ich lag still.
Ich lauschte.
Die Stimme war in mir. Je fieberhafter ich nach ihrem Ursprung suchte, desto stärker wurde sie. Liebte mich. Liebte mich, auch wenn ich mich selbst nicht lieben konnte, wollte. Liebte mich, obwohl ich sie haßte. Sie grub ihre winzigen Zähne in meine Seele und hielt mich fest. Und als ich weiterkriechen wollte, steigerte sie sich zu einem klagenden Geheul, das mich beschwor, den geheiligten Bund der Freundschaft nicht zu brechen.
Es war Fäustel.
Er litt meine Schmerzen, geistige wie körperliche. Und als ich aufhörte, mich gegen sein Zerren zu sträuben, wußte er sich vor Freude nicht zu lassen. Das einzige, was ich tun konnte, um ihn zu belohnen, war, stillzuliegen und nicht länger darauf zu beharren, meinem Leben ein Ende zu setzen. Und er versicherte mir, es wäre genug, übergenug, es wäre Seligkeit. Ich schloß die Augen.
Der Mond stand hoch am Himmel, als Burrich mich behutsam auf den Rücken drehte. Der Narr hielt eine Fackel hoch, und Fäustel hüpfte um ihn herum. Burrich hob mich auf, als wäre ich immer noch das Kind, der Junge, den man in seine Obhut gegeben hatte. Ich erhaschte einen Blick auf sein dunkles Gesicht, aber es war ausdruckslos. Hinter dem Narren, der mit der Fackel leuchtete, trug er mich die lange Wendeltreppe hinunter, zurück zu den Ställen und hinauf in seine Kammer. Dann
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