Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Ich akzeptierte die Worte, die sie zu mir sprach, wie ein Vogel trockene Brotkrumen und rührte nicht an die Abschirmung, die sie zwischen uns errichtete. Bald sagte sie, es würde Zeit, nach Hause zu gehen, sonst könnte es schlimm werden. Denn wenn ihr Vater auch nicht mehr die Kraft hatte, sie zu schlagen, war er doch imstande, seinen Bierkrug auf dem Boden zu zerschmettern oder Regale umzustürzen, um seinem Mißfallen Ausdruck zu verleihen. Sie erzählte mir das mit einem schiefen kleinen Lächeln, als wäre es eine Anekdote und eigentlich ganz lustig. Ich brachte kein Lächeln zustande, und sie schaute zur Seite.
Nachdem ich ihr den Umhang über die Schultern gelegt hatte, verließen wir die Teestube und gingen die steile Gasse hinauf, gegen den kalten Wind gestemmt, der uns ins Gesicht blies – die passende Metapher für mein ganzes bisheriges Leben, schoß es mir durch den Kopf. Vor der Tür überrumpelte sie mich mit einer kurzen Umarmung und einem Kuß auf den Mundwinkel. »Neuer ...« sagte sie und: »Vielen Dank. Für dein Verständnis.«
Dann huschte sie in ihren Laden und ließ mich frierend und verdutzt draußen stehen. Sie dankte mir für mein Verständnis, ausgerechnet in einem Moment, wo ich mich unendlich weit von ihr entfernt fühlte und von allen anderen Menschen auch.
Auf dem ganzen Rückweg zur Burg kreisten Fäustels Gedanken um die aufregenden Düfte, die er an ihr wahrgenommen hatte, und wie sie ihn genau an der Stelle vor den Ohren kraulte, die er nicht richtig erreichen konnte, und ah, die süßen Plätzchen in der warmen Teestube.
Es wurde Nachmittag, bis wir wieder in der Burg eintrafen. Ich erledigte einige Arbeiten, dann stiegen Fäustel und ich in Burrichs Kammer hinauf, legten uns hin und schliefen. Burrich weckte mich.
»Auf und laß dich anschauen«, befahl er.
Ich erhob mich steifbeinig und stand still, während er mich untersuchte. Er zeigte sich zufrieden mit dem Zustand meiner Hand und meinte, sie brauchte nicht mehr geschient zu werden, aber den Stützverband um die Rippen sollte ich noch eine Zeitlang tragen und jeden Abend zurückkommen, um ihn neu anlegen zu lassen. »Was das übrige betrifft, sauber und trocken halten und nicht den Schorf abreißen. Wenn eine von den Schrammen anfängt zu eitern, sag mir Bescheid.« Er füllte einen kleinen Topf mit der Salbe, die er zum Einreiben von schmerzenden Muskeln benutzte, und gab ihn mir, woraus ich den Schluß zog, daß man von mir erwartete zu gehen.
Ich stand da und hielt den Salbentopf in der Hand. Eine schreckliche Traurigkeit schnürte mir die Kehle zu, und ich brachte kein Wort heraus. Burrich schaute mich an, runzelte die Stirn und wandte sich halb ab. »Hör auf damit«, brummte er unwirsch.
»Womit?«
»Manchmal siehst du mich mit deines Vaters Augen an«, sagte er halblaut und dann, wieder streng: »Nun, was wolltest du denn tun? Dich für den Rest deines Lebens hier in den Ställen verkriechen? Nein. Du mußt dahin zurückgehen, wohin du gehörst. Du mußt zurückgehen, erhobenen Hauptes, und deine Mahlzeiten mit den anderen einnehmen, in deinem Zimmer schlafen und dein eigenes Leben leben. Ja, und bring zu Ende, was du angefangen hast – diese vermaledeite Ausbildung in der Gabe.«
Die ersten Anweisungen zu befolgen stellte schon eine harte Prüfung dar, aber das letzte war Schlichtweg unmöglich.
»Das kann ich nicht.« War Burrich denn von allen guten Geistern verlassen? »Galen würde mich nicht wieder in die Gruppe aufnehmen. Und selbst wenn, ich könnte nicht alles aufholen, was ich versäumt habe. Ich war nicht gut genug, Burrich, ich habe versagt, und jetzt muß ich etwas anderes für mich zu tun finden. Am liebsten würde ich mit den Falken arbeiten, ja?« Mit dem letzten Satz überraschte ich mich selbst, denn ich hatte nie zuvor daran gedacht. Burrichs Erwiderung war mindestens ebenso merkwürdig.
»Schlag dir das aus dem Kopf, die Falken mögen dich nicht. Du bist zu warmblütig und kümmerst dich nicht genug um deine eigenen Angelegenheiten. Jetzt hör mir zu. Du hast nicht versagt, Dummkopf. Galen hat versucht, dich loszuwerden. Wenn du kneifst, hat er gewonnen. Du mußt zurückgehen und weiterlernen. Aber« – er trat dicht an mich heran, und das ärgerliche Funkeln in seinen Augen galt mir – »du brauchst nicht dazustehen wie ein Schaf, während er sein Mütchen an dir kühlt. Du hast durch Geburt ein Anrecht auf sein Wissen und seine Zeit.
Zwing ihn, dir zu geben, was dir zusteht.
Weitere Kostenlose Bücher