Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Ohren nichts gehört.« Der Narr stand auf und reckte sich. »Du wirst zu spät kommen, wenn du dich nicht eilst«, ermahnte er mich und ging. Gleich nach ihm verließ ich mein Zimmer und stieg gedankenversunken die lange Turmtreppe hinauf und war trotzdem der erste in dem geschändeten Garten der namenlosen Königin.
Kapitel 16
Lektionen
Den alten Chroniken zufolge schlossen Gabenkundige sich zu Kordialen zusammen, die aus sechs Personen bestanden. Ursprünglich gehörte zu diesen Gruppen niemand vom herrschenden Zweig des Königshauses, sondern es waren die Vettern und Basen der Familien der Thronfolger sowie andere, die die entsprechenden Fähigkeiten besaßen und für würdig erachtet wurden. Eine der berühmtesten, Kreuzfeuers Kordiale, ist geeignet, als Beispiel zu dienen. Im Dienst von Königin Clairvoyante waren Kreuzfeuer und die übrigen von einem Gabenmeister namens Taktik ausgebildet worden. Die Mitglieder dieser Kordiale wählten sich gegenseitig aus und erhielten anschließend eine besondere Schulung von Taktik, um sie zu einer Einheit zusammenzuschmieden. Ob über die gesamten Sechs Provinzen verstreut, um Gerüchte zu sammeln oder auszustreuen, oder ob als Gruppe, um gemeinsam den Feind zu verwirren und zu demoralisieren, ihre Taten lieferten den Stoff für Sagen. Ihre letzte Heldentat, das Thema der Ballade Kreuzfeuers Opfermut , war die Aufbietung all ihrer Kräfte, die sie während der Schlacht von Besham Königin Clairvoyante zuströmen ließen. Ohne Wissen der erschöpften Königin gaben sie ihr mehr, als sie selbst entbehren konnten, und als man bei der Siegesfeier nach ihnen suchte, fand man die Kordiale in ihrem Turm, entkräftet und sterbend. Vielleicht rührte die besondere Liebe des Volkes zu Kreuzfeuers Kordiale teils daher, daß sie alle in der einen oder anderen Weise gezeichnet waren: blind, lahm, entstellt durch eine Hasenscharte oder von Feuer, doch in der Gabe war ihre Kraft gewaltiger als die des mächtigsten Kriegsschiffs und von größter Wichtigkeit für den Schutz der Königin.
Während der friedlichen Regierungszeit von König Wohlgesinnt wurden keine neuen Kordialen mehr gebildet. Bestehende Kordialen zerfielen wegen Alters, Todes oder einfach, weil es für sie nichts mehr zu tun gab. Es wurde Brauch, nur Prinzen in der Gabe auszubilden, und lange betrachtete man es als ziemlich archaische Kunst. Zur Zeit der Überfälle durch die Roten Korsaren beherrschten einzig König Listenreich und sein Sohn Veritas die Ausübung der Gabe. Listenreich gab Befehl, ehemalige Kundige aufzuspüren und zu rekrutieren, aber die meisten waren zu alt oder der Aufgabe nicht mehr gewachsen.
Galen, Listenreichs Gabenmeister, erhielt den Auftrag, neue Kordialen zur Verteidigung des Reiches zu schaffen. Galen entschied sich für eine Abkehr von der Tradition. Er stellte die Kordialen zusammen, statt daß die Mitglieder selbst ihre Wahl trafen. Galens Unterrichtsmethoden waren hart und zielten darauf ab, jeden einzelnen seiner Schüler zu blindem Gehorsam zu erziehen, zu einem bloßen Werkzeug für die Hand des Königs. Dieser besondere Aspekt war Galens eigene Interpretation, und die erste Kordiale, die er schuf, präsentierte er König Listenreich wie ein großzügiges Geschenk. Wenigstens ein Mitglied der königlichen Familie verlieh seinem Abscheu über diesen Gedanken Ausdruck. Doch es hingen düstere Wolken über dem Reich, und in der Zeit der Gefahr konnte König Listenreich der Versuchung nicht widerstehen, von der Waffe Gebrauch zu machen, die man ihm in die Hand gegeben hatte.
Dieser Haß. Oh, wie sie mich haßten. Einer nach dem anderen traten sie auf die Terrasse heraus, stutzten, als sie meiner ansichtig wurden, und schauten durch mich hindurch. Ich spürte die Verachtung so deutlich wie einen Guß kaltes Wasser. Zu guter Letzt umgab ihr Haß mich wie eine Mauer. Doch ich harrte an meinem gewohnten Platz aus und erwiderte stumm ihre Blicke. Das war, glaube ich, der Grund, weshalb keiner das Wort an mich richtete. Wohl oder übel stellten sie sich auf wie immer, und auch untereinander redeten sie nicht.
Wir warteten.
Die Sonne ging auf und stand bereits über den Zinnen, und noch immer war Galen nicht gekommen, aber keiner wagte, den Turm zu verlassen. Wir faßten uns in Geduld. Endlich hörte man schleppende Schritte auf der Treppe. Galen erschien, kniff geblendet die Augen zusammen, sah mich und erschrak sichtlich. Ich zuckte nicht mit der Wimper. Wir fixierten uns
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