Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
frische Luft mir den Kopf klar machte, und das gleichmäßige Ausschreiten lockerte die von Galens Übungen verkrampften Muskeln. Fäustels Sinneswahrnehmungen, die er als steten Strom an mich weitergab, verankerten mich fest in der gegenwärtigen Welt, so daß ich mich nicht in düsteren Gedanken verlieren konnte.
Ich redete mir ein, es wäre Fäustel, der uns ohne Umwege zu Mollys Laden führte. Nach Welpenart war er an den Ort zurückgekehrt, wo man ihn schon einmal liebevoll aufgenommen hatte. Mollys Vater war an diesem Tag im Bett geblieben, und im Verkaufsraum hielt sich nur ein einziger Kunde auf, der mit Molly plauderte. Sie stellte ihn mir als Jade vor. Er war Maat auf irgendeinem Kauffahrer aus Robbenbucht, nicht ganz zwanzig, und er redete mit mir, als wäre ich zehn, während er über meinen Kopf hinweg Molly anlächelte. Er steckte voller Geschichten über Rote Korsaren und gefährliche Stürme. Eins seiner Ohrläppchen zierte ein roter Stein und ein flaumiger Bart sein Kinn. Er ließ sich viel Zeit, um Kerzen und eine neue Messinglampe auszuwählen, doch endlich ging er.
»Schließ den Laden für eine Stunde zu«, drängte ich Molly. »Laß uns hinunter zum Strand gehen. Die Luft draußen ist herrlich.«
Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich bin mit der Arbeit im Rückstand. Ich sollte den ganzen Nachmittag Kerzen ziehen, wenn keine Kunden da sind. Und wenn Kunden da sind, muß ich im Laden sein.«
Ich war enttäuscht. Vorsichtig suchte ich in ihrem Bewußtsein und stellte fest, daß sie eigentlich gern mitgekommen wäre. »Es wird schon bald dunkel«, versuchte ich sie zu überreden. »Du kannst heute abend noch Kerzen ziehen. Und deine Kunden werden morgen wiederkommen, wenn sie sehen, daß heute geschlossen ist.«
Sie krauste nachdenklich die Stirn, dann legte sie kurz entschlossen das Knäuel Dochtschnur aus der Hand. »Du hast recht. Die frische Luft wird mir guttun.« Ihre Lebhaftigkeit, mit der sie nach dem Umhang griff, entzückte Fäustel und überraschte mich. Wir schlossen die Tür zu und gingen.
Molly schritt wie immer kräftig aus, und Fäustel umtanzte sie unternehmungslustig. Wir plauderten über Belanglosigkeiten. Der Wind zauberte Rosen auf Mollys Wangen, und die Kälte verlieh ihren Augen einen hellen Glanz. Ich hatte den Eindruck, daß sie mich häufiger und ernster anschaute als sonst.
Die Stadt war ruhig, auf dem Markt packten die Händler ihre Waren zusammen. Wir gingen zum Strand und wanderten Arm in Arm sehr erwachsen dort entlang, wo wir noch vor wenigen Jahren wild herumgetobt waren. Sie fragte mich, ob ich gelernt hätte, eine Laterne anzuzünden, bevor ich nachts in der Burg herumgeisterte: Ich wußte erst nicht, was sie meinte, bis mir einfiel, daß ich ihr ja erzählt hatte, ich wäre im Dunkeln eine Treppe hinuntergefallen und daher kämen die blauen Flecken. Dann wollte sie wissen, ob zwischen dem Schulmeister und dem Stallmeister immer noch Kriegszustand herrschte, und so erfuhr ich, daß sich Burrichs und Galens Zweikampf bei den Zeugensteinen bereits herumgesprochen hatte. Ich versicherte ihr, der Zwist sei beigelegt. Wir vertrieben uns die Zeit damit, eine bestimmte Art Seetang zu sammeln, den sie als Zutat für ihr Abendessen haben wollte. Dann suchten wir uns einen Platz im Windschatten einiger Felsen und schauten zu, wie Fäustel begeisterte Versuche unternahm, die Möwen vom Strand zu jagen.
»Also hat Prinz Veritas die Absicht, sich zu vermählen, wie man hörte«, meinte sie beiläufig.
»Wie?« Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben.
Sie lachte herzlich. »Neuer, ich kenne niemanden, der so taub für Gerüchte ist wie du scheinbar. Wie kannst du da oben in der Burg wohnen und nicht wissen, was die Spatzen von den Dächern pfeifen? Veritas hat sich bereit erklärt, eine Gemahlin zu nehmen, um die Thronfolge zu sichern. Doch es heißt, weil er zu beschäftigt ist, selbst auf Brautschau zu gehen, wird Edel für ihn werben.«
»O nein!« Meine Verzweiflung war echt. Ich stellte mir Veritas vor, vierschrötig, gutmütig, und an seiner Seite eins von Edels Zuckerpüppchen. Wann immer in der Burg zu einem Fest gerichtet wurde, Lenzen, Winterherz oder Erntetag, strömten sie herbei, von Chalced und Farrow und Bearns, in Kutschen, auf reichgeschmückten Zeltern oder in Sänften. Sie trugen Roben wie Schmetterlingsflügel und aßen wie Vögelchen und umschwirrten Edel wie Kolibris. Er saß in der Mitte des Schwarms, herausgeputzt in Samt und Seide, und
Weitere Kostenlose Bücher