Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
gegenseitig. Er konnte die Bürde des Hasses erkennen, die meine ehemaligen Kameraden mir aufgeladen hatten, und es bereitete ihm Genugtuung, genau wie der Verband um meine Stirn. Doch ich sah ihm in die Augen und ließ mir keine Regung anmerken. Ich durfte mir keine Blöße geben.
Allmählich wurde ich mir des Unbehagens bewußt, das die anderen empfanden. Man konnte ihn nicht betrachten und so tun, als sähe man nicht, wie gnadenlos er gestraft worden war. Die Zeugensteine hatten ihr Urteil gesprochen und ihn gezeichnet. Sein hageres Gesicht schillerte in allen Regenbogenfarben, die Unterlippe war in der Mitte gespalten, der Mundwinkel eingerissen. Er trug ein langes Gewand, das die Spuren an seinem Körper verbarg, aber die fließende Weite stand in solchem Gegensatz zu seinen üblichen eng sitzenden Anzügen, daß man den Eindruck hatte, den Mann in seinem Nachthemd zu sehen. Auch seine Hände waren purpurn verfärbt und geschwollen. Seine Reitpeitsche trug er nach wie vor bei sich, doch ich bezweifelte, daß er imstande war, viel damit auszurichten.
So musterten wir einander. Ich empfand keine Freude über seine Verletzungen oder seine Demütigung. Eher fühlte ich etwas wie Scham deswegen. Ich hatte so fest an seine Unverletzlichkeit und Überlegenheit geglaubt, daß ich mir töricht vorkam, erkennen zu müssen, daß auch er nur ein Mensch war. Meine Reaktion brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Zweimal machte er den Mund auf, um mich anzusprechen, dann schien er zu resignieren, wandte der Klasse den Rücken zu und sagte: »Beginnt mit euren Lockerungsübungen. Ich werde kontrollieren, ob die Haltung korrekt ist.« Er sprach undeutlich durch den schmerzlich verzogenen Mund. Während wir uns gehorsam wiegten und streckten und beugten, schleppte er sich mühsam von einem zum anderen, angestrengt bemüht, keinen Halt an der Mauer zu suchen oder zu oft auszuruhen. Verstummt das Klatschen der Gerte gegen seinen Oberschenkel, das vorher den Takt zu unseren Übungen angegeben hatte. Jetzt hielt er sie umklammert, als hätte er Angst, sie könne ihm aus der Hand fallen. Ich für meinen Teil war dankbar, daß Burrich mich gezwungen hatte, aufzustehen, um zu vermeiden, daß die Muskeln steif wurden. Zwar behinderte mich der Verband um die Rippen, aber ich gab mir alle Mühe, die Bewegungsabläufe mit der verlangten Präzision auszuführen.
Neues lernten wir an diesem Tag nicht, Galen ließ uns nur wiederholen, was wir bereits konnten. Der Unterricht war früh zu Ende, die Sonne stand noch ein gutes Stück über dem Horizont. »Ich bin zufrieden«, sagte er schwerfällig. »Diese freien Stunden sind eine Belohnung, weil ihr in meiner Abwesenheit nicht untätig gewesen seid.« Bevor er uns entließ, mußten wir einzeln vor ihn hintreten für eine kurze Berührung mit der Gabe. Die anderen verließen den Dachgarten nur zögernd und schauten mehrmals zurück; sie wären gerne geblieben, um zu sehen, wie er sich mir gegenüber verhielt. Als sie nach und nach alle gegangen waren, wappnete ich mich für die Konfrontation.
Aber selbst das war eine Enttäuschung. Er rief mich zu sich, und ich kam, ebenso schweigend und äußerlich respektvoll wie die anderen. Ich stand vor ihm, und er vollführte mit der Hand einige Gesten vor meinem Gesicht und über meinem Kopf. Dann sagte er mit ausdrucksloser Stimme: »Deine Abschirmung ist zu stark. Du mußt lernen, den Schild vor deinen Gedanken etwas zu senken, wenn du sie entweder aussenden oder die von anderen empfangen willst. Geh.«
Und ich ging, aber mit Bedauern. Insgeheim fragte ich mich, ob er wirklich den Versuch gemacht hatte, mich mit der Gabe zu erreichen. Ich hatte nichts gespürt. Schmerzgepeinigt und verbittert stieg ich die vielen Stufen hinunter und fragte mich, wozu die Mühe.
Ich ging erst in mein Zimmer und anschließend zu den Stallungen, wo ich Rußflocke striegelte, während Fäustel zuschaute. Immer noch fühlte ich mich ruhelos und unzufrieden, obwohl ich wußte, daß ich mich eigentlich hätte ausruhen sollen, wenn ich morgen nicht dafür büßen wollte, daß ich der Stimme meines Körpers keine Beachtung geschenkt hatte. Steine laufen? schlug Fäustel vor, und ich erklärte mich einverstanden, mit ihm in den Ort hinunterzugehen. Mit der Nase am Boden lief er begeistert um mich herum. Es wehte heftig nach dem windstillen Vormittag, draußen auf dem Meer braute sich ein Wetter zusammen. Aber der Wind war für die Jahreszeit sehr warm, und ich fühlte, wie die
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