Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
wir am Strand saßen, während ich erzählte, und wenn ich fertig war, würde sie nicht richten oder mir gute Ratschläge erteilen, sondern nur meine Hand nehmen und mir nahe sein. Endlich wußte jemand über mich Bescheid, ich brauchte vor ihr nichts mehr zu verbergen. Und die Molly meiner Phantasie wandte sich nicht von mir ab, sie hielt zu mir. Ich verzehrte mich in Sehnsucht und bangte mit der Verzagtheit, die nur ein heranwachsender Junge kennt, dessen Liebe zwei Jahre älter ist als er selbst. Wenn ich ihr all meine Kümmernisse offenbarte, würde sie in mir ein unglückliches Kind sehen und mich bedauern? Würde sie mir nachtragen, daß ich mich ihr nicht früher anvertraut hatte? Ein dutzendmal hielt mich dieser Gedanke davon ab, endlich meinen Entschluß in die Tat umzusetzen und sie zu besuchen.
Doch ungefähr zwei Monate später, als ich doch einen Gang in den Ort unternahm, führten meine verräterischen Füße mich ohne Umwege zum Kerzenladen. Zufällig hatte ich einen Korb bei mir, darin eine Flasche Kirschwein und vier oder fünf dornige kleine Rosen, um den Preis von Haut und Blut aus dem Frauenhag geraubt, wo ihr Duft sogar den des Thymians überlagerte. Ich redete mir ein, es wäre einfach nur so. War ich denn gezwungen, ihr meine Lebensgeschichte zu erzählen? Wenn ich keine Lust hatte, brauchte ich nicht einmal hineinzugehen und sie zu begrüßen. Ich konnte mich frei entscheiden.
Wie sich herausstellte, waren die Entscheidungen bereits gefällt, und ich wurde nicht gefragt.
Ich kam gerade rechtzeitig, um Molly an Jades Arm weggehen zu sehen. Ihre Köpfe neigten sich zueinander, und sie unterhielten sich halblaut. Vor der Ladentür blieb er stehen, um sie anzusehen, und sie hob den Blick zu seinem Gesicht. Als der Mann die Hand ausstreckte und zärtlich ihre Wange berührte, war Molly plötzlich eine Frau – eine Frau, die ich nicht kannte. Die zwei Jahre Altersunterschied zwischen uns waren eine riesige Kluft, die ich niemals zu überbrücken hoffen konnte. Ich wich hinter die Hausecke zurück, um nicht entdeckt zu werden, und hielt den Kopf gesenkt, aber sie hatten mich nicht bemerkt. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, und sie gingen langsam. Es dauerte ewig, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
In dieser Nacht betrank ich mich sinnlos und erwachte am nächsten Morgen zwischen einigen Büschen auf halbem Weg zur Burg.
Kapitel 18
Gesellenprüfung
Chade Irrstern, persönlicher Ratgeber von König Listenreich, ließ es sich angelegen sein, in dem Zeitraum unmittelbar vor Ausbruch der Korsarenkriege durch ein Experiment das Phänomen der Entfremdung zu erforschen. Das Folgende ist ein Auszug aus seinen Aufzeichnungen.
»Netta, die Tochter des Fischers Gill und der Bäuerin Rada, wurde am siebzehnten Tag nach dem Frühlingsfest von Roten Korsaren aus ihrem Dorf Gutwasser geraubt. Als Entfremdete kehrte sie drei Tage später zurück. Ihr Vater hatte bei demselben Überfall das Leben verloren, und ihre Mutter, nunmehr allein mit fünf unmündigen Kindern, war dieser zusätzlichen Belastung nicht gewachsen. Netta war zum Zeitpunkt ihrer Entfremdung vierzehn Sommer alt. Sechs Monate nach dem Überfall kam sie in meine Obhut.
Als man sie mir brachte, war sie schmutzig, zerlumpt und von Hunger und Mißhandlungen geschwächt. Ich gab Anweisung, sie zu waschen, zu kleiden und in einem meinen Gemächern benachbarten Zimmer unterzubringen. Ich verfuhr mit ihr wie mit einem wilden Tier, das man zu zähmen wünscht. Jeden Tag brachte ich selbst ihr die Mahlzeiten und blieb bei ihr, während sie aß. Ich sorgte dafür, daß sie es warm hatte, daß ihr Zimmer saubergehalten wurde und ihr die Annehmlichkeiten zur Verfügung standen, auf die eine Frau Wert legt: Waschwasser, Bürsten, Kämme und allerlei anderes. Zusätzlich ließ ich ihr alles bringen, was man zum Sticken brauchte, denn mir war zu Ohren gekommen, daß sie vor ihrer Entfremdung viel Freude an solchen Handarbeiten gehabt und etliche kunstvolle Stücke angefertigt hatte. All diese Maßnahmen dienten dem Zweck herauszufinden, ob bei fürsorglicher Pflege eine Entfremdete nicht wieder zu ihrem früheren Wesen zurückfinden könnte.
Das scheueste Reh, selbst ein Wolf, wäre bei dieser Behandlung zugänglicher geworden, doch Netta zeigte sich von allem unbeeindruckt. Sie war in ihrem Verhalten auf eine Stufe unglaublicher Primitivität zurückgesunken. Zum Essen benutzte sie die Hände, und war sie gesättigt, ließ sie die Reste auf den Boden
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