Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Freude.
»Deshalb hattest du es so eilig, mich zu begrüßen«, bemerkte ich sarkastisch.
Er unterbrach seine Tätigkeit. »Tut mir leid. Ich dachte, du wärst vielleicht gerne eine Zeitlang ungestört, um dich zu erholen.« Sein Blick senkte sich auf den Mörser. »Auch für mich ist es kein leichter Winter und Frühling gewesen. Sollen wir Vergangenes vergessen und nach vorne schauen?«
Ein freundschaftlicher, vernünftiger Vorschlag. Nur ein Starrkopf hätte ihn abgelehnt.
»Habe ich die Wahl?« fragte ich.
Chade kratzte den Inhalt des Mörsers in ein Haarsieb, das er zum Abtropfen über eine Tasse hängte. »Nein«, sagte er schließlich, als hätte er gründlich über die Frage nachgedacht. »Nein, die hast du nicht, und ich auch nicht. In vielen Dingen hat niemand von uns eine Wahl.« Er musterte mich von oben bis unten, dann stocherte er wieder in seinem Körnerbrei. »Du«, er schlug einen Ton an, der keine Widerrede duldete, »du wirst den Rest des Sommers nichts anderes trinken als Wasser und Tee. Dein Schweiß stinkt nach Wein. Und für einen jungen Mann sind deine Muskeln erbärmlich schlaff. Galens Meditationen haben deinem Körper alles andere als gutgetan. Verschaff dir Bewegung. Für den Anfang wirst du täglich viermal zu Veritas' Turmgemach hinaufsteigen. Du übernimmst die Aufgabe, ihm seine Mahlzeiten zu bringen und die Tees, deren Zubereitung ich dir zeigen werde. Hüte dich, ihm ein verdrossenes Gesicht zu zeigen, sei heiter und umgänglich. Der Pagendienst für Veritas wird dir vielleicht die Augen öffnen, und du begreifst, daß ich aus gutem Grund anderweitig beschäftigt gewesen bin. Auf jeden Fall wird das deine Arbeit sein, hier in Bocksburg. An manchen Tagen wirst du außerdem für mich Aufträge ausführen.«
Die wenigen Worte Chades genügten, daß ich mich schämte. Die Vorstellung von meinem Leben als hehre Tragödie zerplatzte, in Selbstmitleid hatte ich mich gesuhlt! »Ich habe mich gehenlassen«, bekannte ich.
»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Chade mir bei. »Du hattest einen Monat, um dein Leben wieder in den Griff zu bekommen, aber nein, du führst dich auf wie ein verwöhnter Bengel. Kein Wunder, daß Burrich von dir genug hat.«
Seit langem wunderte ich mich nicht mehr darüber, was Chade alles wußte. Diesmal war ich sicher, daß er den wirklichen Grund für den Bruch zwischen Burrich und mir nicht kannte, und ich hatte nicht den Wunsch, ihn einzuweihen.
»Hast du inzwischen herausgefunden, wer ihn umbringen wollte?«
»Ich habe nicht – ich habe nicht versucht, es herauszufinden. Nicht ernsthaft.«
Chade verzog verärgert das Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. »Junge, du bist nicht du selbst. Vor einem halben Jahr hättest du auf der Suche nach dem Täter jeden Stein umgedreht. Vor einem halben Jahr hättest du mit einem Monat freier Zeit etwas anzufangen gewußt. Was liegt dir auf der Seele?«
Mit seinen Worten hatte er meinen wunden Punkt getroffen, und ich senkte den Blick. Einerseits drängte es mich, ihm alles zu erzählen, was mir widerfahren war, andererseits wollte ich mit niemandem darüber reden. »Ich werde dir schildern, wie sich der Überfall auf Burrich abgespielt hat, soviel ich davon weiß.«
»Und der Zeuge, der das alles beobachtet hat«, erkundigte er sich, als ich fertig war. »Kann er den Angreifer beschreiben?«
»Es war dunkel«, antwortete ich ausweichend. Chade brauchte nicht zu wissen, daß ich mich genau an den Geruch des Mannes erinnerte, aber nur eine vage Vorstellung davon hatte, wie er aussah.
Chade schwieg einen Moment. »Nun, du verstehst dich ja darauf, herumzuhorchen. Ich möchte doch gerne wissen, wer so kühn geworden ist, des Königs Stallmeister vor seiner eigenen Kammertür zu ermorden.«
»Dann glaubst du nicht, daß jemand nur eine persönliche Rechnung begleichen wollte?« fragte ich tastend.
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Mir kommt es vor wie ein Zug beim Schachspiel. Jemand führt etwas im Schilde, aber die Eröffnung ist ihm fehlgeschlagen. Zu unserem Vorteil, hoffe ich.«
»Kannst du mir erklären, was dich zu dieser Ansicht bringt?«
»Das könnte ich, aber ich will nicht. Du sollst dir unbeeinflußt eine eigene Meinung bilden. Jetzt komm. Ich zeige dir die Rezepte für die Tees.«
Ich war ziemlich verletzt, daß er nichts über meine Zeit bei Galen oder meine Prüfung wissen wollte. Er tat so, als hatte er mit meinem Versagen gerechnet. Als er
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