Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
eines Tages die dreifache Dosis eines Schlaftrunks. Ich ließ sie waschen, herrichten und in ihr Dorf überführen, wo sie zur letzten Ruhe gebettet wurde. Wenigstens eine Familie konnte einen Schlußstrich unter ihre Leidensgeschichte ziehen. Die meisten anderen sind zu qualvoller Ungewißheit verurteilt, wenn es auch gnädiger sein mag, daß sie nie erfahren, was aus ihren Lieben geworden ist.«
Zu jener Zeit gab es im Reich mehr als eintausend Seelen, von denen man wußte, daß sie entfremdet waren.
Burrich hatte seine Worte ernst gemeint. Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich war unten in den Ställen und Zwingern nicht länger willkommen. Besonders Cob sah es mit boshafter Freude. Obwohl er häufig mit Edel unterwegs war, versäumte er nicht, wenn er da war, mir am Stalltor in den Weg zu treten, um mich am Weitergehen zu hindern.
»Erlaubt mir, Euch Euer Pferd zu bringen, junger Herr«, sagte er dann mit höhnischer Dienstbeflissenheit. »Der Stallmeister wünscht, daß die Pferde ausschließlich von den Knechten betreut werden.« Mir blieb nichts anderes übrig, als dazustehen wie irgendein verweichlichtes Fürstensöhnchen, während Rußflocke für mich gesattelt und herausgeführt wurde. Cob persönlich mistete ihre Box aus, fütterte und striegelte sie, und es fraß an mir wie Säure, sehen zu müssen, wie schnell sie sich an ihn gewöhnte. Sie ist nur ein Pferd, sagte ich mir, man kann ihr keinen Vorwurf machen. Doch es war eine weitere Zurückweisung.
Ich hatte plötzlich viel zuviel freie Zeit. Die Vormittage waren früher stets mit Arbeiten für Burrich ausgefüllt gewesen. Jetzt gehörten sie mir. Hod war damit beschäftigt, Rekruten für den Militärdienst auszubilden. Ich hätte mit ihnen arbeiten können, doch war ich ihnen schon zu weit voraus. Fedwren befand sich auf der Wanderschaft, wie jeden Sommer. Mir fiel nicht ein, wie ich es anstellen sollte, den Bruch mit Philia zu kitten, und jeden Gedanken an Molly verbannte ich strikt aus meinem Kopf. Selbst meine Ausflüge in die Schänken von Burgstadt fanden alleine statt. Kerry hatte sich als Lehrling bei einem Puppenspieler verdungen, und Dirk war zur See gegangen. Ich war ohne Beschäftigung und einsam.
Es war ein unglückseliger Sommer, und nicht allein für mich. Mochte ich auch mit dem Schicksal hadern und in Selbstmitleid ertrinken, mir blieb trotzdem nicht verborgen, wie sich die Lage in den Sechs Provinzen rapide verschlechterte. Die Roten Korsaren, dreister denn je, wüteten an der Küste. Sie begnügten sich auch nicht mehr damit, uns zu verhöhnen und zu bedrohen, sie begannen Forderungen zu stellen. Korn. Vieh. Das Recht, sich in unseren Seehäfen nach Belieben zu bedienen. Das Recht, bei uns zu übersommern und zu ernten, wo sie nicht gesät hatten. Das Recht, sich aus unserem Volk Sklaven auszuwählen. Jede Forderung war unerträglicher als die vorhergehende und wurde an Kaltblütigkeit nur noch von den Entfremdungen übertroffen, die jedem Nein des Königs folgten.
Die Bürger der Hafen- und Küstenstädte wanderten ins Landesinnere ab. Wer wollte es ihnen verdenken, aber die Folge war, daß wir dem Feind kaum noch eine wirksame Verteidigung entgegenzusetzen hatten. Die Truppenstärke wurde vergrößert, Söldner angeworben, zwangsläufig mußten die Steuern erhöht werden, und das Volk murrte über die Last der Abgaben und die scheinbare Untätigkeit des Königs. Ein Kuriosum waren die Outislander, die in ihren Familienschiffen in unseren Gewässern auftauchten, um Asyl baten und düstere Geschichten von Chaos und Tyrannei auf den Äußeren Inseln erzählten, wo die Roten Korsaren inzwischen ein Schreckensregiment errichtet zu haben schienen. Sie waren teils ein Fluch, teils ein Segen. Obwohl sie bereit waren, für geringes Handgeld in unsere Armee einzutreten, traute man ihnen nicht recht, aber wenigstens waren ihre Berichte von der Gewaltherrschaft der Roten Korsaren in ihrer Heimat abschreckend genug, um in der Bevölkerung gar nicht erst den Gedanken an Unterwerfung aufkommen zu lassen.
Etwa einen Monat nach meiner Rückkehr öffnete Chade mir seine Tür. Ich grollte ihm, weil er mich so lange vernachlässigt hatte, und stieg entsprechend langsam die Treppe hinauf. Als ich ins Zimmer trat, hob er den Blick von dem Mörser, in dem er Samenkörner zerstampfte, und zeigte mir ein vor Müdigkeit graues Gesicht. »Ich bin froh, dich zu sehen«, sagte er, doch der Klang seiner Stimme verriet nichts von
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