Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
etwas wie schlechtes Gewissen auf dem eingefallenen Gesicht, aber dann gewannen Übelkeit und Kopfschmerz des halb ausgeschlafenen Rauschs die Oberhand. Er bückte sich nach einem weißgebleichten Stück Treibholz. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden, du freches Gör! Treibt sich hier mit dem Bettlerpack herum und läßt sich von ihnen zu wer weiß was anstiften! Du hast wieder geholfen, die Räuchergestelle zu plündern, wette ich, und Schande über mich gebracht. Lauf nicht weg, oder du kriegst die doppelte Tracht, wenn ich dich erwische!«
Sie muß seiner Drohung geglaubt haben, weil sie sich duckte und schützend die Arme über den Kopf hob, dann besann sie sich anders und legte nur die Hände vor das Gesicht. Ich stand starr vor Entsetzen, während Nosy, der meine Angst spürte, kläglich jaulte und eine Pfütze in den Sand machte. Man hörte den Stock durch die Luft sausen.
Mein Herz tat einen schmerzhaften Satz, und ich stieß den Mann, mit einer Aufwallung von Kraft, die irgendwie aus meinem Bauch kam.
Er taumelte, wie der Faßträger am Tag zuvor, aber dann griff er sich an die Brust, der Holzknüppel fiel ihm aus der Hand. Wie vom Blitz getroffen, stürzte er in den Sand, zuckte krampfhaft und rührte sich nicht mehr.
Molly öffnete zaghaft die zugekniffenen Augen, immer noch in Erwartung des ersten Schlages. Sie sah ihren Vater regungslos daliegen, sprang verstört auf und lief zu ihm hin. »Papa, Papa, was ist mit dir? Bitte, du darfst nicht sterben, es tut mir leid, daß ich so ungezogen gewesen bin. Du darfst nicht sterben, ich will auch artig sein. Ich schwöre, ich werde artig sein.« Ohne auf die blutigen Schrammen zu achten, kniete sie neben ihm nieder, hob seinen Kopf und bemühte sich vergeblich, ihn aufzurichten.
»Er hätte dich umgebracht«, erklärte ich. Ihr Benehmen war mir ein Rätsel.
»Nein. Er schlägt mich manchmal, wenn ich ungehorsam gewesen bin, aber er würde mich nie umbringen. Und wenn er nüchtern ist, weint er und bittet mich, lieb zu sein und ihn nicht zornig zu machen. Ich sollte besser aufpassen, ihn nicht zu erzürnen. Oh, Neuer, ich glaube, er ist tot.«
Fast glaubte ich es auch, doch wenig später ächzte er laut und schlug die Augen auf. Was immer ihn überkommen haben mochte, es schien vorüber zu sein. Benommen ließ er sich Mollys angstvollen Beistand und selbst meine zögernde Hilfe gefallen. Er stützte sich auf uns, und wir führten ihn langsam über den kiesigen Strand zum Ort zurück. Nosy umtanzte uns mit aufgeregtem Gekläff.
Die wenigen Leute, die uns sahen, schenkten uns keine Beachtung. Vermutlich war der Anblick von Molly, die ihren Vater nach Hause brachte, für sie nicht neu. Ich begleitete sie bis zum Eingang einer kleinen Kerzenzieherei und mußte mir anhören, wie Molly gar nicht aufhören wollte, sich zu entschuldigen. Anschließend machten Nosy und ich uns auf den langen Rückmarsch zur Burg, für mich eine Gelegenheit, ungestört über das seltsame Verhalten der Menschen nachzudenken.
Nachdem ich einmal den Weg ins Dorf und zu den Straßenkindern gefunden hatte, zog es mich immer wieder hin. Burrichs Tage waren angefüllt mit seinen Pflichten, und an den Abenden genoß er die Gelage des Frühlingsfestes. Er achtete wenig auf mein Kommen und Gehen, solange er mich bei Dunkelwerden auf meinem Deckenlager fand. Ich glaube, er hatte keine Ahnung, was er mit mir anfangen sollte, außer dafür zu sorgen, daß ich tüchtig aß, um groß und stark zu werden, und nachts in der Sicherheit seiner Kammer schlief. Er hatte es zu der Zeit auch nicht leicht als Chivalrics Gefolgsmann. Was sollte aus ihm werden, nachdem sein Herr in Ungnade gefallen war? Das muß ihm schwer auf der Seele gelegen haben. Dazu kam die Sache mit seinem Bein. Trotz seiner Kenntnisse in der Heilkunde schien er sich selbst nicht so leicht kurieren zu können, wie es ihm bei seinen Tieren gelang. Ein- oder zweimal sah ich die Verletzung unverbunden, und mir grauste beim Anblick der gezackten Wunde, die nicht heilen wollte, sondern immer rot und geschwollen war und näßte. Anfangs verfluchte Burrich sie in allen Tonarten und biß grimmig die Zähne zusammen, wenn er sie jeden Abend reinigte und neu verband, doch als die Tage vergingen und keine Besserung eintrat, betrachtete er sie zunehmend mit dumpfer Verzweiflung. Irgendwann klang die Entzündung ab, zurück blieb eine wulstige Narbe, die sein Bein verzog und ihn zum Hinken zwang. Kein Wunder, daß er kaum einen
Weitere Kostenlose Bücher