Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
schliefen, bis zu einer Stiege an der Trennwand zwischen Stallungen und Remise. Hinter Burrich erklommen wir die knarrenden Stufen, und oben öffnete er eine weitere Tür. Im ersten Moment blendete mich das schwache gelbliche Licht eines Kerzenstummels auf einem Tisch. Wir traten in eine Kammer mit schrägem Dach, wo es nach Burrich roch, nach Leder und den Ölen und Salben, die Teil seines Handwerks waren. Er schloß die Tür, und als er an uns vorbeiging, um an dem Stummel eine zweite Kerze anzuzünden, roch ich den Wein in seinem Atem.
Es wurde etwas heller, und Burrich setzte sich auf einen Stuhl am Tisch. Er sah fremd aus, gekleidet in feines, dünnes Tuch, braun und gelb, mit einer Silberkette quer über dem Wams. Er legte die offene Hand aufs Knie, und sofort war Nosy bei ihm. Burrich kraulte ihm die Hängeohren, tätschelte ihm liebevoll die Flanken und verzog das Gesicht wegen der Staubwolke, die aus seinem Fell aufstieg. »Ihr seid ein feines Paar, ihr zwei beiden«, sagte er mehr zu dem Hund als zu mir. »Seht euch nur an – schmutzig wie Landstreicher. Euretwegen habe ich heute meinen König angelogen, zum erstenmal in meinem Leben. Wie es scheint, wird Chivalrics Fall mich mitreißen. Ich habe ihm gesagt, ihr wärt schon fest eingeschlafen, erschöpft von der Reise. Es gefiel ihm nicht, daß er nun warten muß, bis er seinen Enkel zu sehen bekommt, doch glücklicherweise hatte er Wichtigeres zu bedenken. Chivalrics Rücktritt hat unter den Fürsten Unruhe gestiftet. Einige sehen darin die beste Gelegenheit, sich einen Vorteil zu verschaffen, andere verdrießt es, um einen König betrogen zu sein, den sie achteten. Listenreich ist bemüht, sie alle zu beschwichtigen. Er läßt ausstreuen, Veritas wäre diesmal derjenige gewesen, der die Verhandlungen mit den Chyurda geführt hätte. Wer das glaubt, sollte nicht mehr unbeaufsichtigt herumlaufen dürfen. Doch sie sind gekommen, um Veritas noch einmal in Augenschein zu nehmen und darüber nachzudenken, ob und wann er ihr nächster König sein wird und was für eine Art König er wohl abgibt. Der ganze Hof summt wie ein aufgestörter Bienenstock.«
Burrich hob den Blick von Nosys Gesicht. »Nun ja, Fitz. Ich nehme an, du hast heute einen Vorgeschmack davon bekommen. Den armen Cob hast du fast zu Tode erschreckt mit deinem kopflosen Davonlaufen. Bist du verletzt? Hat man dich beschimpft? Ich hätte wissen müssen, daß es welche gibt, die dir die Schuld an dem Schlamassel geben. Na, dann komm her. Komm her.«
Als ich zögerte, trat er zu einer Lagerstatt vor dem Herd und klopfte einladend auf die Decken. »Sieh her. Hier wartet ein Schlafplatz auf dich. Und auf dem Tisch stehen Brot und Fleisch für euch beide.«
Seine Worte lenkten meine Aufmerksamkeit auf den zugedeckten Teller, den ich nur aus den Augenwinkeln bemerkt hatte. Fleisch, bestätigten Nosys Sinne. Burrich lachte über unsere Eile, zum Tisch zu gelangen, und beobachtete mit schweigender Billigung, wie ich erst Nosy eine Portion zuteilte, bevor ich mir selbst den Mund vollstopfte. Wir aßen, bis wir satt waren, denn Burrich hatte den Hunger eines Kindes und eines jungen Hundes nach einem abenteuerlichen Tag richtig eingeschätzt. Und dann wirkten die Decken so dicht beim Feuer plötzlich unwiderstehlich verlockend. Satt, in der Wärme geborgen, rollten wir uns zusammen und schliefen.
Als wir am nächsten Morgen erwachten, stand die Sonne bereits am Himmel, und Burrich war fort. Nosy und ich verspeisten den Rest Brot und nagten die übriggebliebenen Knochen blank, bevor wir die Kammer verließen. Niemand sprach uns an oder schien Notiz von uns zu nehmen.
Draußen war ein weiterer Tag des Feierns und der Lustbarkeiten angebrochen. In der Burg drängten sich womöglich noch mehr Menschen als zuvor. Zahllose Füße wirbelten den Staub auf, das Stimmengewirr vermischte sich mit dem Rauschen des Windes und dem entfernten Brausen des Meeres. Nosy saugte alles in sich auf, jeden Geruch, jeden Anblick, jedes Geräusch, und gab es an mich weiter. Diese doppelte Sinneswahrnehmung war schwer zu verkraften. Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, verrieten mir, daß unsere Ankunft mit einem traditionellen Frühlingsfest zusammenfiel. Chivalrics Abdankung war immer noch das Hauptgesprächsthema, aber das hielt weder Puppenspieler noch Akrobaten davon ab, jedes freie Plätzchen zu einer Bühne ihrer Kunst zu machen. Mindestens ein Marionettentheater hatte Chivalrics Mißgeschick bereits zu einem derben
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