Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Gedanken übrig hatte für einen kleinen Jungen, der ungefragt in seine Obhut gegeben worden war.
Also genoß ich eine Freiheit, wie sie nur Kinder bis zu einem bestimmten Alter erleben, von den Erwachsenen die meiste Zeit unbeachtet. Bis das Frühlingsfest vorüber war, hatten sich die Torwächter an mein Kommen und Gehen gewöhnt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hielten sie mich für einen Botenjungen, von denen es in der Burg viele gab, nur um weniges älter als ich. Ich gewöhnte mir an, morgens in der Küche ein herzhaftes Frühstück für Nosy und mich zu stibitzen, das eine Zeitlang vorhielt. Darüber hinaus Verpflegung zu beschaffen – verkohlte Brotkrusten aus den Backstuben, Muscheln und Tang vom Strand, Räucherfisch von unbewachten Gerüsten – bildete einen festen Teil meiner täglichen Unternehmungen. Molly Blaufleck und ich wurden mit der Zeit die dicksten Freunde. Nach jenem ersten Mal erlebte ich nicht mehr oft, daß ihr Vater sie schlug. Meistens war er zu betrunken, um sie zu finden oder, falls doch, um seine Drohungen in die Tat umzusetzen. An das, was ich an dem Tag getan hatte, verschwendete ich kaum noch einen Gedanken, nur war ich froh, daß Molly den Schwächeanfall ihres Vaters nicht mit mir in Zusammenhang brachte.
Die Stadt wurde meine Welt, mit der Burg als dem Ort, wo ich hinging, um zu schlafen. Es war Sommer, die aufregendste Zeit in einem Hafen. Wohin man ging, überall in Burgstadt herrschte reges Treiben. Aus den Herzogtümern landeinwärts kamen Waren auf flachen Kähnen den Bocksfluß hinunter, bemannt von schwitzenden Flußschiffern. Sie sprachen wichtig von Untiefen und Stromschnellen und Landmarken und dem Schwanken des Wasserpegels. Ihre Fracht wurde in die Geschäfte oder Speicher des Ortes hinaufgekarrt, dann wieder nach unten, zu den Kais und in die Laderäume der Segelschiffe. Auf diesen führten fluchende Seeleute das Regiment, die für die Flußschiffer und ihren begrenzten Horizont nur Geringschätzung übrig hatten. Ihre Rede handelte von Gezeiten und Stürmen und Nächten, in denen sich nicht einmal die Sterne hervorwagten, um ihnen den Weg zu weisen. Auch Fischer machten im Hafen von Burgstadt fest, und sie waren die Leutseligsten von allen. Einen guten Fang vorausgesetzt.
Kerry lehrte mich die Gepflogenheiten der Docks und Tavernen und wie ein flinker Bursche drei oder gar fünf Heller am Tag verdienen konnte, indem er Botengänge in den steilen Gassen der Stadt unternahm. Wir fanden es schlau und verwegen, die größeren Jungen zu unterbieten, die zwei Heller oder mehr für einen einzigen Gang verlangten. Ich glaube nicht, daß ich seither je wieder so mutig gewesen bin wie damals. Wenn ich die Augen schließe, nehme ich das Aroma dieser glanzvollen Tage wahr. Werg und Teer und frische Holzspäne von den Trockendocks, wo die Schiffsbauer ihre Zugmesser und Fäustel handhabten. Der süße Geruch von ganz frischem Fisch und der Pesthauch eines in der Hitze zu lange zurückgehaltenen Fangs. In der Sonne laugende Wollballen, die vollmundigen Ausdünstungen der Eichenfässer mit mildem Sandsedge Brandy, verdorbenes Heu, zum Auslegen einer Vorpiek bestimmt, der Duft der Kistenstapel mit harten Melonen. Und diese bunte Mischung wurde von dem Wind aus der Bucht durcheinandergequirlt, der nach Salz und Jod schmeckte. Nosy teilte mir alles mit, was er witterte, ihm verdankte ich diese lebendige Erinnerung – ich roch mit seiner Nase.
Kerry und ich erhielten die unterschiedlichsten Aufträge: einen Steuermann holen, der Landurlaub erhalten hatte, um sich von seiner Frau zu verabschieden, oder Gewürzproben zu einem Käufer in einem Kontor zu bringen. Der Hafenmeister schickte uns los, damit wir einer Mannschaft ausrichteten, irgendein Dummkopf hätte die Leinen falsch festgemacht und die Flut wäre im Begriff, sich ihrer Brigg zu bemächtigen. Doch am liebsten waren uns die Aufträge, die uns in die Schänken führten. Dort gingen die Geschichtenerzähler und Zuträger ihrem Gewerbe nach. Man lauschte gebannt den klassischen Sagen von Entdeckungsreisen und Mannschaften, die furchtbaren Stürmen trotzten, und von unfähigen Kapitänen, die ihre Schiffe mit Mann und Maus auf den Grund des Meeres schickten. Viele dieser Abenteuer lernte ich auswendig, aber die Geschichten, die mir am besten gefielen, stammten nicht von den berufsmäßigen Fabulierern, sondern von den Seeleuten selbst. Das waren nicht die Garne, die am Feuer zur Unterhaltung der Gäste gesponnen wurden,
Weitere Kostenlose Bücher