Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Teil des Palastes, am weitesten entfernt vom Portal. Nirgends Wachen. Ich ging an der Tür zum Schlafgemach des einsiedlerischen Königs vorbei, vorbei an Rurisks Tür und blieb vor Kettrickens stehen. Die Seidenbespannung in dem Holzgitter war mit Kolibris und Jelängerjelieber bemalt, und ich mußte unwillkürlich daran denken, wie sehr es dem Narren gefallen hätte. Ich klopfte leise an und wartete. Eine Minute verging. Ich klopfte erneut.
Schritte von bloßen Füßen, dann wurde die Tür aufgeschoben. Aus Kettrickens für die Nacht neu geflochtenen Zöpfen hatten sich rings um das Gesicht bereits wieder feine Strähnen gelöst. In ihrem langen weißen Nachtgewand kam sie mir so blaß vor wie der Narr. »Brauchst du etwas?« fragte sie verschlafen.
»Nur die Antwort auf eine Frage.« Der Rauch geisterte immer noch durch meine Gedanken. Ich wollte lächeln vor ihr witzig und klug erscheinen. Schneeige Schönheit! dachte ich. Dann rief ich mich energisch zur Ordnung. Sie wartete. »Wenn ich heute nacht Euren Bruder tötete«, fragte ich langsam, »was würdet Ihr tun?«
Sie zuckte nicht mit der Wimper. »Dich töten, selbstverständlich. Oder ich würde deinen Kopf verlangen, zur Sühne. Da ich jetzt deiner Familie verpflichtet bin, darf ich meine Hand nicht mit deinem Blut beflecken.«
»Aber bliebe es bei der Hochzeit? Würdet Ihr Euch trotzdem mit Veritas vermählen?«
»Ich habe mich den Sechs Provinzen als ihre Königin angelobt. Ich habe mich dem Volk der Sechs Provinzen angelobt. Morgen werde ich mich dem König-zur-Rechten angeloben. Nicht einem Mann namens Veritas. Doch selbst wenn es anders wäre, frage dich, welches ist der stärkste Bund? Nicht nur ich gebe mein Wort, sondern auch mein Vater, der König, und mein Bruder. Ich habe nicht den Wunsch, einen Mann zu heiraten, der den Befehl gegeben hat, meinen Bruder zu ermorden, doch nicht der Mann ist es, dem ich angehöre. Es sind die Sechs Provinzen. Man sendet mich dorthin in der Hoffnung, das durch diese Vermählung besiegelte Bündnis möge beiden Ländern zum Vorteil gereichen. Dorthin muß ich gehen.«
Ich nickte. »Seid bedankt, Prinzessin. Vergebt mir, daß ich Eure Nachtruhe gestört habe.«
»Wohin gehst du jetzt?«
»Zu Eurem Bruder.«
Ich spürte, daß sie mir nachschaute, als ich zum Gemach ihres Bruders ging. Ich klopfte und wartete. Rurisk schien unruhig gewesen zu sein, denn er öffnete sehr viel schneller als seine Schwester.
»Darf ich hereinkommen?«
»Selbstverständlich.« Liebenswürdig, wie ich erwartet hatte. Die spitzen Finger eines trunkenen Kicherns zupften an meiner Entschlossenheit. Chade wäre in diesem Augenblick alles andere als stolz auf dich, tadelte meine innere Stimme, und ich verkniff mir das Lächeln, das auf mein Gesicht drängte.
Ich trat ein, und er schloß die Tür hinter mir. »Trinken wir Wein?« fragte ich.
»Wenn du es wünschst«, meinte er verwundert, aber höflich. Ich setzte mich auf einen Stuhl, während er den Stöpsel aus einer Karaffe zog und uns einschenkte. Auf seinem Tisch stand ein Räuchergefäß, noch warm. Im Großen Saal hatte ich ihn nicht dem Rauch frönen gesehen. Wahrscheinlich hielt er es für sicherer, abzuwarten, bis er allein in seinem Zimmer war. Aber man kann nie wissen, wann ein Mörder zu Besuch kommt und den Tod in seiner Tasche hat. Wieder mußte ich gegen ein albernes Lächeln ankämpfen. Er füllte zwei Gläser. Ich beugte mich vor und zeigte ihm mein Papiertütchen. Gewissenhaft ließ ich den Inhalt in seinen Wein rieseln, schwenkte das Glas, damit das Pulver sich auflöste und reichte es ihm.
»Ich bin gekommen, um Euch zu vergiften, müßt Ihr wissen. Ihr sterbt. Dann wird Kettricken mich töten. Dann heiratet sie Veritas.« Ich hob mein Glas und nippte. Apfelwein. Aus Farrow, nahm ich an. Wahrscheinlich Teil der Hochzeitsgeschenke. »Was hätte Edel damit gewonnen?«
Rurisk musterte seinen Wein mit Widerwillen und stellte ihn weg. Er nahm mir das Glas aus der Hand und trank einen Schluck. Seine Stimme klang völlig gelassen, | als er sagte: »Er ist dich los. Offensichtlich bist du ihm zuwider. Er ist sehr liebenswürdig gewesen und hat auch mir persönlich viele Geschenke gemacht, doch wenn ich sterbe, ist Kettricken die alleinige Erbin des Bergreichs. Das wäre ein Gewinn für die Sechs Provinzen, oder nicht?«
»Wir können nicht einmal die Gebiete schützen, die wir jetzt haben. Und ich glaube, Edel würde es als einen Gewinn für Veritas ansehen, nicht
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