Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
ich sie bei der Stute gespürt hatte. Anders als Burrich, schien sie nicht vor mir auf der Hut zu sein. Ich glaube, da erkannte ich zum ersten Mal, daß manche Menschen wie manche Tiere mein Spüren nach ihnen überhaupt nicht wahrnahmen. Es wäre leicht gewesen, tiefer in ihr Bewußtsein einzudringen, nur war ich so erleichtert, keine Feindseligkeit vorzufinden, daß ich mich fürchtete, diesen Status quo zu zerstören. Deshalb ließ ich still und stumm ihre Musterung über mich ergehen.
»Wie nennt man dich, mein Junge?« erkundigte sie sich plötzlich.
Die unvermeidliche Frage. »Fitz.«
Sie runzelte über meine leise Antwort die Stirn. Ich richtete mich höher auf und sprach lauter. »Burrich nennt mich Fitz.«
Sie zuckte leicht zusammen. »Wie es seine Art ist. Er pflegt kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nun, ich glaube, ich verstehe seine Gründe, und mir soll es recht sein. Also Fitz. Ich werde dir jetzt zeigen, weshalb der Stock, den du dir ausgewählt hast, zu lang für dich war und zu dick. Und dann nimmst du dir einen anderen.«
So geschah es, und anschließend führte sie mich langsam durch eine Übung, deren Bewegungsablauf mir unendlich kompliziert zu sein schien, doch am Ende der Woche war es ein solches Kinderspiel, wie meinem Pferd die Mähne zu flechten. Wir kamen gerade zum Schluß, als ihre übrigen Schüler eintrafen. Es waren vier, ein oder zwei Jahre jünger als ich, aber schon erheblich fortgeschrittener. Der Unterricht wurde nicht leichter dadurch, daß wir nun eine ungerade Zahl von Teilnehmern waren und keiner unbedingt den Neuen zum Partner haben wollte.
Irgendwie brachte ich den Tag hinter mich, auch wenn das Wie hinter einem mildtätigen Schleier verborgen ist. Ich erinnere mich, daß mir alle Knochen weh taten, als sie uns endlich gehen ließ; daß die anderen den Kiesweg entlang und zur Burg hinaufstürmten, wahrend ich trübsinnig hinterherschlich und den Augenblick verwünschte, in dem der König mich bemerkt hatte. Es war ein langer Aufstieg zum Palas, und der Speisesaal war überfüllt und laut. Ich war zu müde, um viel zu essen. Soweit ich noch weiß, begnügte ich mich mit Eintopf und Brot und war bereits wieder vom Tisch aufgestanden und unterwegs zur Tür, nur die Geborgenheit und Wärme der Stallungen im Kopf, als ich von Brant angesprochen wurde.
»Dein Zimmer ist gerichtet«, war alles, was er sagte.
Ich warf einen verzweifelten Blick auf Burrich, aber der war in ein Gespräch mit seinem Nebenmann vertieft und bemerkte nichts von meiner Not. Also blieb mir einmal mehr nichts anderes übrig, als Brant zu folgen, eine breite Steintreppe hinauf und in einen Teil der Burg, den ich noch nie erforscht hatte.
Auf einem Treppenabsatz blieben wir stehen. Er nahm einen Kandelaber von dem Tisch dort und zündete die Kerzen an. »Die königliche Familie bewohnt diesen Flügel«, informierte er mich nebenher. »Der König hat ein Schlafzimmer so groß wie ein Tanzsaal am Ende dieses Korridors.« Ich glaubte blind alles, was er sagte, obwohl ich später herausfand, daß ein Laufbursche wie er höchstens davon träumen konnte, in den königlichen Flügel vorzudringen. Diese Ehre war bedeutenderen Lakaien vorbehalten. Weiter ging es, eine zweite Treppe hinauf, und wieder blieb er stehen. »Besucher werden hier untergebracht«, erklärte er und gestikulierte mit dem Leuchter, so daß der Luftzug die Kerzenflammen nach hinten wehte. »Wichtige Besucher, heißt das.«
Wir erklommen eine dritte Treppe, diese merklich schmaler, verglichen mit den ersten beiden. Als wir auf dem nächsten Absatz haltmachten, schaute ich mit sinkendem Mut eine Flucht noch schmalerer, steilerer Stufen hinauf. Diesmal aber ging Brant den Flur entlang, vorbei an eins, zwei, drei Türen. An der vierten schob er den Riegel zurück und stemmte sich mit der Schulter dagegen. Sie schwang nur widerwillig auf. »Lange nicht benutzt worden, das Zimmer«, bemerkte er fröhlich. »Aber jetzt ist es deins, und du kannst es dir gemütlich machen.« Damit stellte er den Leuchter auf eine Truhe, nahm eine Kerze heraus und ging. Er zog die Tür hinter sich zu, und ich war allein im Halbdunkel eines großen, mir fremden Raums.
Irgendwie brachte ich es fertig, ihm weder nachzulaufen noch die Tür aufzureißen. Statt dessen nahm ich den Leuchter und zündete die Kerzen in den Wandhalterungen an. Vor der vereinten Macht der kleinen Flammen wichen die huschenden Schatten in die Ecken zurück. Im Kamin brannte ein
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