Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Benehmen war eine schwere Prüfung für den König, denn auch im Rausch ließ sie sich zu haltlosen Anschuldigungen und aufrührerischen Reden hinreißen, ohne Rücksicht auf den Anlaß oder mögliche Zuhörer. Man hätte annehmen sollen, diese Ausschweifungen gegen Ende ihres Lebens hätten ihre Anhänger abgeschreckt, aber im Gegenteil, sie behaupteten entweder, Listenreich hätte sie dazu getrieben, sich selbst zu zerstören, oder ihr eigenhändig Gift verabreicht. Doch ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß der König an ihrem Tode keine Verantwortung trägt.
Burrich schnitt mir zum Zeichen der Trauer um Chivalric die Haare bis auf einen Fingerbreit ab. Sich selbst schor er den Kopf und rasierte sich dazu noch Bart und Augenbrauen ab. Die blasse Haut des Schädels bildete einen krassen Gegensatz zu dem wettergegerbten Gesicht; er sah merkwürdig aus, merkwürdiger noch als die Waldmänner mit ihrem harzverklebten Haar und den rot und schwarz gefärbten Zähnen. Die Kinder starrten diese wilden Gesellen an und flüsterten hinter der vorgehaltenen Hand, wenn sie vorübergingen, aber vor Burrich drückten sie sich beiseite. Wahrscheinlich wegen seiner Augen. Die leeren Knochenhöhlen eines Totenschädels enthielten mehr Leben als Burrichs Augen in jenen Tagen.
Edel sandte einen Diener, um Burrich zu tadeln, weil er sich Haar und Bart geschoren hatte. Das wäre Trauer für einen gekrönten König, nicht für einen Mann, der auf die Thronfolge verzichtet hatte. Burrich sah den Boten an, bis er davonschlich. Veritas kürzte Haar und Bart um eine Handbreit, wie es der Trauer um einen Bruder entsprach. Einige Männer der Leibgarde stutzten ihren Nackenzopf, die einen mehr, die anderen weniger, ihr Brauch beim Tod eines Kameraden. Doch was Burrich mit sich und mir getan hatte, war extrem. Die Leute starrten uns an. Mir lag auf der Zunge zu fragen, weshalb ich um einen Vater trauern sollte, den ich nie gesehen hatte, der nie gekommen war, um mich zu besuchen, aber ein Blick in seine Augen und auf seinen verkniffenen Mund belehrte mich eines Besseren. Niemand berichtete Edel von der Trauerlocke, die er jedem Pferd aus der Mähne schnitt, oder von dem stinkenden Feuer, das alle diese Haaropfer verzehrte. Ich hatte eine verschwommene Vorstellung davon, daß Burrich etwas von unserer Seele zusammen mit Chivalrics auf die Reise schickte – ein Brauch, der von dem Volk seiner Großmutter stammte.
Es schien, als wäre Burrich ebenfalls gestorben. Eine kalte Macht regierte seinen Körper, so daß er pflichtgetreu seiner Arbeit nachging, jedoch ohne Anteilnahme oder Freude. Knechte, die zuvor um ein anerkennendes Kopfnicken von ihm gewetteifert hatten, wandten sich jetzt ab, als schämten sie sich für ihn. Nur Hexe blieb ihm treu. Die alte Hündin folgte ihm auf Schritt und Tritt, ohne durch einen Blick oder ein Streicheln belohnt zu werden, aber anhänglich wie ein Schatten. Einmal drückte ich sie tröstend an mich, wagte sogar, in ihr Bewußtsein einzudringen, aber dort spürte ich nur eine beklemmende Erstarrung. Sie trauerte mit ihrem Herrn.
Die Winterstürme brausten und heulten um die Klippen. Die leblose Kälte der Tage leugnete selbst die Vorstellung eines Frühlings. Chivalric wurde in Weidenhag beigesetzt. In der Burg fand ein Trauermahl statt, doch es war kurz und verlief sehr still – mehr ein steifes Ritual als ein Ausdruck echten Kummers. Wer ihn aufrichtig betrauerte, schien sich einer Geschmacklosigkeit schuldig zu machen. Sein öffentliches Leben hätte mit seiner Abdankung enden sollen; wie taktlos von ihm, erneut Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er tatsächlich starb.
Eine Woche nach dem Tod meines Vaters weckten mich der vertraute Luftzug von der geheimen Tür und der gelbe Lichtschein, der mich rief. Ich sprang aus dem Bett und lief die Treppe hinauf zu meinem Refugium. Wie gut, aus dieser bedrückenden Atmosphäre zu entkommen und wieder unter Chades Anleitung Kräuter zu mischen und seltene Dämpfe zu erzeugen. Endlich das Gefühl der Verunsicherung abschütteln können, das mich plagte, seit ich von Chivalrics Tod erfahren hatte.
Aber die Alchemistenküche in seinem Zimmer lag im Dunkeln, der Kamin war aus. Chade saß vor seinem eigenen Feuer; als ich hereinkam, winkte er mich zu sich. Ich setzte mich zu seinen Füßen hin und sah zu ihm auf, doch er hob nur seine narbige Hand und legte sie auf meinen geschorenen Kopf. Eine Weile saßen wir so da und schauten gemeinsam in die
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