Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Flammen.
»Nun, da wären wir, mein Junge«, begann er schließlich und verstummte dann wieder, als hätte er damit alles gesagt, was es zu sagen gab. Er zauste meinen igelkurzen Schopf.
»Burrich hat mir das Haar abgeschnitten«, erklärte ich.
»Das sieht man.«
»Ich finde es gräßlich. Es stachelt an meinen Kissen, und ich kann nicht schlafen. Meine Kappe rutscht mir vom Kopf. Und ich sehe albern aus.«
»Du siehst aus wie ein Junge, dessen Vater gestorben ist.«
Ich schwieg verdutzt. Die ganze Zeit hatte ich angenommen, mein Haar wäre eine weniger radikale Version von Burrichs kahlgeschorenem Schädel. Doch Chade hatte recht. Dieser Schnitt war Ausdruck der Trauer eines Sohnes um seinen Vater, nicht eines Untertanen, der seinen Monarchen beweint. Mein Ärger wurde noch größer.
»Aber weshalb sollte ich um ihn trauern?« fragte ich Chade, was ich Burrich nicht zu fragen gewagt hatte. »Ich kannte ihn überhaupt nicht.«
»Er war dein Vater.«
»Er hat irgendeine Frau geschwängert. Als er von meiner Existenz erfuhr, verschwand er. Schöner Vater. Er hat sich nie um mich gekümmert.« Ich stieß die Worte trotzig hervor. Es machte mich wütend – Burrichs tiefe, ungebärdige Trauer und jetzt Chades stiller Kummer.
»Das weißt du nicht, du hast nur gehört, was man sich erzählt. Manche Dinge kannst du in deinem Alter noch nicht verstehen. Du hast nie gesehen, wie ein Vogel sich flügellahm stellt, um Nesträuber von seinen Jungen wegzulocken.«
»Das sagst du nur so.« Obwohl ich mich dagegen stemmte, geriet meine Überzeugung ins Wanken. »Er hat mir nie in irgendeiner Weise zu verstehen gegeben, daß er mich liebt.«
Chade wandte den Kopf und sah mich an. Seine Augen waren glanzlos, eingesunken und gerötet. »Hättest du gewußt, daß er dich liebt, dann hätten es auch die anderen gemerkt. Wenn du ein Mann bist, begreifst du vielleicht, was ihn das gekostet hat. Gleichgültigkeit vorzutäuschen, um dich zu schützen. Damit seine Feinde dir keine Beachtung schenken.«
»Nun, weshalb er auch so tat, als gäbe es mich nicht, nachdem er nun tot ist, werde ich bis ans Ende meiner Tage keine Gelegenheit haben, meinen Vater doch noch kennenzulernen.«
Chade seufzte. »Und dieses Ende deiner Tage wird erheblich später kommen, als wenn er dich anerkannt hätte.« Er zögerte, dann fragte er behutsam: »Was willst du über ihn wissen, mein Junge?«
»Alles. Aber woher willst du das wissen?« Je verständnisvoller Chade wurde, desto mehr fühlte ich mich ins Unrecht gesetzt.
»Ich habe ihn sein ganzes Leben lang gekannt. Ich habe ... mit ihm zusammengearbeitet. Oft. Als sein Schatten.«
»Wie meinst du das?« Trotz allem war mein Interesse geweckt.
»Es gibt Mittel und Wege.« Chade räusperte sich. »Mittel und Wege, um auf dem diplomatischen Parkett Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Um eine Partei verhandlungsbereiter zu machen. Dinge können geschehen ...«
Meine Welt stand kopf. Die Wirklichkeit stürzte auf mich ein, die Erkenntnis dessen, was Chade war und was ich sein würde. »Du willst sagen, ein Mann stirbt, und sein Nachfolger ist deshalb unseren Anliegen zugänglicher. Aus Furcht oder aus ...«
»Dankbarkeit. Ja.«
Kaltes Grauen erfüllte mich, als mir die Wahrheit plötzlich klar und deutlich vor Augen stand. All die Lektionen und sorgfältigen Instruktionen – zu diesem Zweck! Ich wollte aufstehen, aber Chade legte mir die Hand auf die Schulter.
»Oder ein Mann lebt zwei oder fünf oder zehn Jahre länger, als man es für möglich gehalten hätte, und bereichert die Politik durch Weisheit und Toleranz des Alters. Oder ein Kind wird von einem erstickenden Husten befreit, und die Mutter erkennt voller Dankbarkeit, daß das, was wir anbieten, für alle Beteiligten segensreich sein kann. Der Schatten ist nicht immer der Schatten des Todes, mein Junge. Nicht immer.«
»Oft genug.«
»Ich habe dich darüber nie im unklaren gelassen.« Aus seinem Tonfall hörte ich zwei Dinge heraus, die mir bei ihm fremd waren: das Bemühen, sich zu rechtfertigen, und Schmerz. Aber die Jugend ist mitleidlos.
»Ich glaube nicht, daß ich noch etwas von dir lernen möchte. Ich denke, ich werde zum König gehen und ihm sagen, er soll sich einen anderen suchen, um für ihn Mordanschläge auszuführen.«
»Die Entscheidung liegt bei dir. Doch ich rate dir davon ab, vorläufig.«
Seine Gelassenheit irritierte mich. »Warum?«
»Weil es alles zunichte machen würde, was Chivalric für dich zu tun
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