Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
und ihm den Auftrag gegeben, die Grauen zu versorgen. Ich sollte mich um unser Packtier und die Insassin der Sänfte kümmern. Letztere war die hochbetagte Lady Quendel, die ich noch nicht kennengelernt hatte. Als sie endlich erschien, war sie dermaßen eingehüllt in Umhänge, Schleier und Schals, daß mir nur zweierlei auffiel: Sie gehörte zur Sorte der hageren alten Damen, und ihr Parfüm brachte Rußflocke zum Niesen. Sie nahm in der mit Kissen und Decken und Pelzen ausgepolsterten Sänfte Platz und befahl sofort, die Vorhänge zu schließen, ungeachtet des schönen Morgens. Die beiden kleinen Mädchen, die ihr geholfen hatten, huschten erleichtert davon und ließen mich allein mit ihr. Mir wurde bang. Ich hatte erwartet, daß wenigstens eine Zofe sie begleitete. Wer kümmerte sich um ihre persönlichen Bedürfnisse, wenn abends das Lager aufgeschlagen wurde? Ich hatte keine Ahnung davon, wie man einer Dame aufwartete, schon gar nicht einer Greisin. Am besten, ich folgte Burrichs Rat für einen Jüngling im Umgang mit älteren Damen: Sei aufmerksam, höflich, flink und gefällig. Auch eine gestrenge Matrone sah mit Wohlgefallen auf einen beflissenen, anstelligen jungen Mann. Behauptete Burrich. Ich näherte mich der Sänfte.
»Lady Quendel? Ist alles zu Eurer Bequemlichkeit?« erkundigte ich mich. Keine Antwort. Vielleicht war sie schwerhörig. »Ist alles zu Eurer Bequemlichkeit?« wiederholte ich lauter.
»Belästige mich nicht, Junge«, schallte es mir ungnädig entgegen. »Wenn ich dich brauche, werde ich dich rufen.«
»Ich bitte um Vergebung«, entschuldigte ich mich hastig.
»Du sollst mich nicht belästigen, habe ich gesagt!« ächzte sie ungehalten. Und fügte halblaut hinzu: »Aufdringlicher Bengel!«
Danach war ich so klug, mich stillschweigend zurückzuziehen, aber meine Stimmung verdüsterte sich. Keine Hoffnung auf eine vergnügliche, unterhaltsame Reise. Endlich hörte ich die Hörner zum Aufbruch blasen und sah, daß weit vor uns Veritas' Banner aufgepflanzt wurde. Staub, vom Wind zu uns hergetrieben, verriet mir, daß unsere Vorhut sich in Bewegung gesetzt hatte. Geraume Zeit verging, und als ich mit der Zunge schnalzte, trug Rußflocke mich neben der schwankenden Sänfte her. Das Maultier trottete ergeben hinterdrein.
Der Tag ist mir deutlich in Erinnerung geblieben. Ich erinnere mich an die Staubwolke, die über der Kavalkade hing, und wie Flink und ich uns mit gedämpfter Stimme unterhielten, denn als wir einmal laut zu lachen wagten, schimpfte Lady Quendel: »Aufhören mit dem Lärm!« Ich erinnere mich auch an einen leuchtend blauen Himmel, der sich über den Hügeln wölbte, als wir der sanft gewundenen Küstenstraße folgten. Von den Höhen hatte man einen atemberaubenden Blick auf das Meer, die Luft in den Tälern war still und von Blumenduft erfüllt. In dieses Idyll paßten die Schafhirten, denen wir begegneten; nebeneinander standen sie auf einer Feldsteinmauer, kicherten, zeigten auf uns und flüsterten. Ihre wolligen Schützlinge grasten verstreut auf den Hängen, und Flink und ich seufzten, weil sie ihre bunten Röcke seitlich geschürzt trugen, so daß die bloßen Knie und Waden der Sonne und dem Wind preisgegeben waren. Rußflocke stemmte sich gegen den Zügel und zeigte deutlich ihr Mißfallen über die langsame Gangart, während der arme Flink ständig sein altes Pony mit Hackenstößen anspornen mußte, um nicht zurückzubleiben.
Zweimal während des Tages machten wir Rast, um die Pferde zu tränken und damit die Reiter sich die Füße vertreten konnten. Lady Quendel kam nicht zum Vorschein, doch einmal machte sie mich verärgert darauf aufmerksam, daß ich ihr hätte Wasser bringen sollen. Ich biß mir auf die Zunge und holte ihr das Gewünschte. Mehr Worte wurden zwischen uns nicht gewechselt.
Das Nachtlager wurde früh aufgeschlagen, die Sonne stand noch über dem Horizont. Flink und ich errichteten den kleinen Pavillon für Lady Quendel, derweil speiste sie in ihrer Sänfte kalten Braten, Käse und Wein aus einem vorsorglich mitgebrachten Picknickkorb. Wir mußten uns mit frugalerer Kost begnügen, Armeerationen, bestehend aus hartem Brot, härterem Käse und Dörrfleisch. Ich hatte noch nicht aufgegessen, als Lady Quendel verlangte, daß ich ihr aus der Sänfte half und sie zu ihrem Pavillon führte. Sie kam eingewickelt und vermummt zum Vorschein, als gälte es, einem Schneesturm zu trotzen. Die einzelnen Gewänder paßten weder nach Farbe noch Schnitt zusammen,
Weitere Kostenlose Bücher