Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
folgte dem Küstenverlauf, und bei unserer geringen Marschleistung brauchten wir volle fünf Tage bis Guthaven. Abgesehen von zwei kleinen Dörfern, bestand die Szenerie aus windumtosten Klippen, Möwen, Grasflächen und gelegentlich einer Gruppe zwergwüchsiger, verkrüppelter Bäume. Doch für mich war die Landschaft voller Schönheiten und Wunder, denn jede Biegung des Wegs brachte mich zu einem Ort, den ich nie zuvor gesehen hatte.
Im Lauf der Reise entwickelte Lady Quendel sich mehr und mehr zur unausstehlichen Tyrannin. Sie traktierte mich mit einem Strom von Beschwerden und Klagen, meistens über Dinge, an denen ich nichts ändern konnte. Ihre Sänfte schwankte zu sehr, man wird ja seekrank. Das Wasser, das ich vom Bach holte, war zu kalt, das aus der Flasche zu warm. Die Reiter vor uns wirbelten zuviel Staub auf – absichtlich, man wollte sie quälen. Und sag ihnen, sie sollen aufhören, diese ordinären Lieder zu grölen.
Ich war mit ihr so beschäftigt, daß mir keine Zeit blieb, moralische Erwägungen über die Ermordung Lord Kelvars anzustellen, selbst wenn ich gewollt hätte.
Früh am fünften Tag sichteten wir den Rauch aus den Schornsteinen von Guthaven. Gegen Mittag konnten wir die größeren Gebäude erkennen und den Wachtturm auf den Klippen über der Stadt. Dieser Landstrich war viel freundlicher als die Gegend um Bocksburg. Unsere Straße schlängelte sich durch ein weites Tal, vor uns lag die blaue Wasserfläche der Bucht, umrahmt von sandigen Stränden. Guthavens Fischereiflotte bestand aus flachen Schleppkähnen und schnittigen kleinen Booten, die wie Möwen auf den Wellen ritten. Der Hafen besaß nicht die nötige Tiefe, deshalb war er ungeeignet für Großsegler und Kauffahrer, und es herrschte nicht der rege Handel und Wandel wie bei uns. Doch insgesamt fand ich, es könnte ein angenehmer Ort sein, um dort zu leben.
Kelvar schickte uns eine Eskorte entgegen, und alles mußte haltmachen, während die Offiziere Formalitäten austauschten. »Wie zwei Hunde, die sich gegenseitig beschnüffeln«, meinte Flink mürrisch. Wenn ich mich in den Steigbügeln aufrichtete, konnte ich weit vorne das Zeremoniell ablaufen sehen und mußte ihm widerwillig recht geben. Endlich ging es weiter, und bald ritten wir durch die Straßen von Guthaven.
Alle anderen nahmen den Weg zu Kelvars Burg, aber Flink und ich hatten die Pflicht, Lady Quendel durch mehrere Seitenstraßen zu dem bestimmten Wirtshaus zu begleiten, in dem sie absteigen wollte. Nach dem Ausdruck auf dem Gesicht der Dienstmagd zu urteilen, logierte sie nicht zum ersten Mal dort. Flink brachte die Pferde mit der Sänfte in den Stall, und mir blieb überlassen, unsere Tyrannin zu ihrem Gemach zu geleiten. Ich fragte mich, was sie gegessen haben mochte, daß jeder ihrer Atemzüge mir Übelkeit erregte. An der Tür entließ sie mich und drohte mir auserlesene Strafen an, falls ich nicht pünktlich nach sieben Tagen wiederkäme. Als ich ging, hörte ich voller Mitgefühl für die Dienstmagd, wie die sattsam bekannte scharfe Stimme sich über diebische Zimmermädchen ausließ, die ihr in der Vergangenheit untergekommen wären, und pedantische Anweisungen gab, wie genau das Bett hergerichtet werden sollte.
Leichten Herzens stieg ich in den Sattel und rief Flink zu, er solle sich sputen. Wir ritten im Trab durch die Gassen von Guthaven und kamen noch zurecht, um mit der Nachhut von Veritas' Troß in Kelvars Festung einzuziehen. Burg Seewacht war auf flachem Land erbaut, das wenig natürlichen Schutz bot, aber durch eine Reihe von Wällen und Gräben befestigt, die ein Feind erst überwinden mußte, bevor er vor den starken Mauern der Burg stand. Flink erzählte mir, daß Angreifer nie über den zweiten Graben hinausgekommen waren, und ich glaubte ihm. Handwerker führten Ausbesserungsarbeiten an den Ravelins durch, doch als wir vorüberritten, hielten sie inne und verfolgten staunend den Einzug des Königs-zur-Rechten in Seewacht. Sobald die Tore sich hinter uns geschlossen hatten, nahm eine weitere endlose Begrüßungszeremonie ihren Lauf. Menschen und Pferde, Wagen und Packtiere mußten in der Mittagssonne ausharren, während Kelvar und Seewacht den hohen Gast willkommen hießen. Hörner tönten, dann folgte das Murmeln offizieller Ansprachen, untermalt vom Stampfen der Hufe, dem Klirren und Knarren von Zaumzeug und Sattelleder und gedämpften Flüchen. Daß es vorbei war, erfuhren wir durch die Welle der Bewegung, die durch die Reihen lief, als
Weitere Kostenlose Bücher