Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
schieben, daß man überzeugt war, er hätte es vergessen. Jetzt teilte er mir mit, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres: »Du wirst Veritas begleiten, wenn er zu Lord Kelvar nach Guthaven reist.«
»Das weiß ich von Burrich. Aber er hat sich gewundert, und ich wundere mich auch. Was ist der Grund?«
Chade zog die Augenbrauen hoch. »Hast du dich nicht vor ein paar Monaten beschwert, Bocksburg wäre dir zu eng geworden und du wolltest mehr von den Sechs Provinzen sehen?«
»Schon. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Veritas mich deshalb mitnimmt.«
Chade schnaufte. »Als ob Veritas einen Gedanken daran verschwendete, wer zu seinem Gefolge gehört. Er hat keine Geduld für Kleinigkeiten, und daher mangelt ihm Chivalrics Genie im Umgang mit Menschen. Doch Veritas besitzt die Eigenschaften eines guten Soldaten, und auf lange Sicht gesehen ist uns damit vielleicht besser gedient. Nein, du hast recht. Veritas weiß nicht, weshalb du seinem Troß zugeteilt bist. Aber dein König weiß es. Er und ich haben gemeinsam darüber beraten. Bist du bereit, ihm zu vergelten, was er für dich getan hat? Bist du bereit, deinen Dienst für die Familie zu beginnen?«
Er sagte es so ruhig und schaute mir so offen ins Gesicht, daß es leicht war, ebenso ruhig zu fragen: »Werde ich jemanden töten müssen?«
»Unter Umständen.« Er hob die Schultern. »Die Entscheidung liegt bei dir. Selbst zu entscheiden – das ist etwas anderes, als wenn einem gesagt wird: ›Das ist der Mann, und du mußt es tun.‹ Es ist viel schwerer, und ich habe Zweifel, ob du schon soweit bist, diese Entscheidung zu treffen.«
»Werde ich je soweit sein?« Ich versuchte zu lächeln, aber es wurde ein verkrampftes Grinsen daraus, das sich in meinem Gesicht festsetzte. Ein Frostschauer durchlief meinen Körper.
»Vermutlich nicht.« Chade schwieg, bis er nach ein paar Minuten zu glauben schien, daß ich mich mit der neuen Situation abgefunden hatte. »Du gehst als Diener einer älteren Edelfrau, die die Mitreisegelegenheit ergreift, um Verwandte in Guthaven zu besuchen. Allzu schwer wird die Arbeit nicht sein. Lady Quendel ist hochbetagt und nicht bei bester Gesundheit. Sie reist in einer geschlossenen Sänfte. Du wirst nebenherreiten, aufpassen, daß sie nicht zu sehr durchgeschüttelt wird, ihr Wasser holen, wenn sie darum bittet, und andere kleine Besorgungen erledigen.«
»Das scheint ungefähr so zu sein, wie für Veritas' Wolfshund zu sorgen.«
Chade stutzte, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Ausgezeichnet. Weshalb dich nicht auch noch damit betrauen. Mach dich auf dieser Reise unentbehrlich, dann hast du einen Freibrief, überallhin zu gehen und alles zu hören, und keiner wird deine Allgegenwart befremdlich finden.«
»Und mein wirklicher Auftrag?«
»Augen und Ohren offenzuhalten. Sowohl Listenreich als auch mir will scheinen, daß die Roten Korsaren zu gut mit unseren Plänen und Schwächen vertraut sind. Kelvar fällt es neuerdings schwer, sich das Geld für die Ausrüstung des Wachturms auf Ödland vom Herzen zu reißen. Zweimal schon hat er ihn unbemannt gelassen, und zweimal haben die Küstendörfer von Shoaks für seine Nachlässigkeit bezahlt. Handelt es sich mittlerweile nicht mehr nur um Nachlässigkeit, sondern um Verrat? Ist Kelvar vom Feind gekauft worden? Wir wollen, daß du herumhorchst und versuchst, einiges herauszufinden. Sollte er unschuldig sein oder reichen die Hinweise nur für einen Verdacht, komm zurück und erstatte uns Bericht. Doch stellst du fest, daß er ein Verräter ist, dann können wir uns die Laus nicht schnell genug aus dem Pelz schaffen.«
»Und wie?« War das wirklich meine Stimme? So gelassen, so beherrscht?
»Ich habe ein Pulver vorbereitet, geschmacklos in einer Speise, farblos in Wein. Wir vertrauen auf deinen Einfallsreichtum und deine Diskretion, was die Verabreichung betrifft.« Er nahm den Deckel von einem Tongefäß auf dem Tisch. Darin lag ein Päckchen aus hauchzartem Papier, dünner und feiner als alles, was Fedwren mir je gezeigt hatte. Tatsächlich war mein erster Gedanke, wie sehr mein alter Kalligraphielehrer sich gefreut hätte, mit einem Material wie diesem arbeiten zu können. Der Inhalt des Päckchens bestand aus einer weißen, puderähnlichen Substanz, die am Papier haftenblieb und in der Luft schwebte. Chade hielt sich ein Tuch vor Mund und Nase, während er eine kleine Menge in ein zusammengedrehtes Stück Ölpapier tippte. Er reichte mir das Tütchen, und
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